Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
und fühle mich großartig. Nur ab und an flitzen ein
paar Fahrradpilger vorbei und brüllen mir mit unnötiger Lautstärke ein »¡Buen
camino!« ins Ohr. Bald verlasse ich den Wald und erreiche das Kloster San
Juan de Ortega, benannt nach dem Einsiedler, Baumeister und Schüler von Domingo
García (Santo Domingo) Juan de Quintanaortuño. Vor dem mittelalterlichen
Klosterbau sind Tische und Stühle aufgestellt, einige Pilger lungern entspannt
in der Sonne. Gerade als ich eintreffe, machen sich Michelle und Lory auf
Richtung Agés. Ich winke ihnen hinterher und lasse mich auf einem der
omnipräsenten Plastikstühle nieder.
Am Sonntag bin ich losgelaufen.
Heute ist erst Mittwoch, denke ich. Mit dem Alleinlaufen nähere ich mich meinem
Pilgerdasein, ich taste mich vorsichtig zu mir selbst. Dabei geht es mitnichten
um das peinliche Wort der Selbstfindung, meiner Meinung nach räumen wir uns
selbst eh viel zu viel Aufmerksamkeit ein, ohne auch nur einen Blick auf unsere
Mitmenschen zu werfen. Aber das nur nebenbei. Wenn ich mit der Welt gerade
nicht im Reinen bin, und das bin ich selten, bin ich innerlich voller Knoten.
Im Bauch, im Kopf, in der Lunge, jetzt gerade sogar an den Waden. Um zumindest
die im Bauch und im Kopf einigermaßen befriedigend zu losen, braucht es mehr
als ein scharfes Schwert. Für jeden einzelnen Knoten benötige ich eine
sinnvolle wie erfüllende Lösung. Die meisten Menschen scheitern schon beim Sinn,
logisch, nichts ist langweiliger als die Vernunft. Aber um obendrauf auch noch
Erfüllung zu finden, muss die bombenfeste Nussschale, in der die Angst
eingeschlossen liegt, geknackt werden. Hört sich abstrakt an, aber die Angst
sorgt für das unheilvolle Gefühl (bei mir im Hinterkopf, soll aber bei jedem
Menschen anderswo sitzen, habe ich mir sagen lassen), das jede sinnvolle
Antwort in Zweifel zieht. Und wenn ich schreibe, dass ich mich vorsichtig zu
mir selbst taste, dann meine ich damit, dass ich mich allmählich der Nussschale
nähere. Ob ich mit einem Nussknacker unterwegs bin oder ob die Schale von ganz
allein abfällt, kann ich noch nicht sagen.
Vom Nebentisch grüßen mich zwei
deutschsprachige Männer. Kenne ich die? In Deutschland passiert mir das permanent:
Ich lerne Leute kennen, kann mir aber deren Gesichter nicht einprägen. Meines
dagegen kann sich jeder merken, und schon bin ich von Fettnäpfchen umzingelt.
Zu meiner Erleichterung lassen mich die beiden in Ruhe und widmen sich wieder
ihrem Dialog. Das ist die Chance, denke ich, und verschwinde. Über eine
asphaltierte Straße geht es in ein weiteres Waldstück, allerdings ist der Weg
diesmal deutlich schmaler als vorhin. An einer Weggabelung lege ich einen Pfeil
aus Steinen, da mir die Wegführung nicht eindeutig scheint. Nach und nach
lichtet sich der Wald und geht über in eine savannenähnliche Landschaft,
eigentlich fehlen nur noch die Gazellen. Über mir erstreckt sich wahnsinnig
viel Himmel, anders kann ich es einfach nicht beschreiben, knallblau und von
scharfen Kondensstreifen durchzogen; ich fühle mich wie in einer riesigen,
himmelblauen Kuppel von unfassbarer Dimension. Der unbändige Wind bläst mir
fast die Mütze vom Kopf. Ich mache mich an den Abstieg, vor mir liegt das
überschaubare Dörfchen Agés.
Ich stapfe durch die
menschenleeren Gassen und erblicke in einem Fenster ein Schild, auf dem die albergue »San Rafael« angewiesen wird. Genau dort haben wir uns alle verabredet, und so
versuche ich die sinnfreie und, wie es sich bald herausstellt, falsche
Wegbeschreibung zu dechiffrieren. Plötzlich, wie aus dem Nichts, erscheint eine
französische Pilgerin und lotst mich ohne Zögern zur Herberge. Da hätte ich
aber lange suchen können, schießt es mir durch den Kopf. Um ziemlich genau
siebzehn Uhr betrete ich die albergue. Während die hospitalera meine Daten aufnimmt, sitzt ihre vielleicht vierjährige Tochter neben mir auf
einem Stuhl und grinst mich an.
» ¡Hola!«, sagt sie.
»¡Hola!«, antworte ich. Trotz meines
Fünfzehn-Euro-Spanisch-Intensivkurses, der im absoluten Profibereich
anzusiedeln ist, steigt meine Nervosität schlagartig, sobald mich jemand auf
Spanisch anspricht. Auf Deutsch würde ich jetzt fragen: »Pilgerst du auch nach
Santiago?« Aber ein falsches Wort, du sagst so etwas wie »Kommst du mit nach Santiago?«,
und schon hält man dich für einen pädophilen Perversen.
Immerhin verstehe ich die hospitalera, wahrscheinlich die Mutter, die helfend eingreift und die Kleine fragt:
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