Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Loraine aus Louisiana am rechten
Fleck. Alles weitere sollte man als Mitpilger einfach hinnehmen oder
ignorieren. Natürlich nur, solange sie nicht plant jemanden umzubringen. Notiz
an mich: Auch zu Hause nicht zu schnell über Mitmenschen urteilen. Hinterher
ist man immer schlauer, aber der Reihe nach. Da wir die Restaurant- und
Clublandschaft von Agés für erkundungsunwürdig halten, melden wir uns für das
Pilgermenü im Erdgeschoss an Schon der Speiseraum sollte uns stutzig machen,
denn er ist relativ schummrig und ungemütlich. Aber Avril, Melanie, Michelle
Lory und ich bleiben gutgläubig sitzen. Und warten. Und warten. Und warten.
Allmählich wird Avril ungehalten, und langsam, ganz langsam beginnt die
Mutation. Das Deutsche in ihr droht Überhand zu nehmen. Ich verziehe mich an
den Nebentisch, denn glücklicherweise werde ich von Kazuko angesprochen, einer
Japanerin. Die Mittdreißigerin und zweifache Mutter schlägt sich allein mit
mäßigen Englischkenntnissen und Zeichensprache durch. Übrigens benötigt man
nicht besonders viel mehr, hat sie doch damit bereits zwei Pilgerfreundinnen
gewonnen. Zwar wundert mich, dass eine Japanerin und zweifache Mutter in ihrem
Alter Zeit findet, wochenlang durch Nordspanien zu wandern, aber das geht mich
nichts an. Melanie packt Plan B aus, B wie Backgammon, um A wie Avril ruhigzustellen.
Aber heute klappt gar nichts, Avril verliert und wird noch wütender als zuvor.
Ein Backgammonbrett gehört einfach nicht in einen Pilgerrucksack, dabei bleibe
ich.
Endlich naht Rettung in Form
des ersten Gangs. Ich entscheide mich für etwas, was ich nicht wirklich
verstehe, und bekomme einen Teller Erbsen, als wäre in der Küche eine
Bonduelle-Dose umgekippt. Okay. Anschließend darf ich mich an einer fettigen
Schuhsohle versuchen, wobei die Bezeichnung des Gerichts nicht frisch war,
wurde doch elegant verschwiegen, welchen Teil des »Rinds« man serviert bekommt.
Der Spaß kostet sage und schreibe neun Euro fünfzig, meiner Meinung nach
glatter Betrug.
Im Aufenthaltsraum, also im
kompletten restlichen Erdgeschoss, wird es nun immer lauter. Das Bier fließt in
Strömen und lockt das halbe Dorf an. Okay, in Agés trifft man sich für ein
Saufgelage in einer Pilgerherberge, das sagt eigentlich alles über das hiesige
Gastronomieangebot aus. Melanie und ich machen uns vom Acker Draußen ist es
bereits dunkel und angenehm frisch. Während sie sich eine Zigarette anzündet,
laufe ich ein wenig durch die Gegend und fotografiere herum. Ein bisschen
anstrengend war’s heute schon, aber morgen werden wir nur bis Burgos laufen,
entspannte vierundzwanzig Kilometer, das dürfte reichen, um sich zu erholen,
Melanie wirft die Kippe weg. Anschließend werden wir beide zu Verbrechern. Ja,
wir brechen in die private Herberge zwei Häuser weiter ein, um heute doch noch
ins Internet zu kommen. Zugegeben, die Tür ist nicht abgeschlossen, aber ein
bisschen verwegen finden wir die Aktion schon. Im Erdgeschoss herrscht
Totenstille, keine Säufer, kein Gegröle. Wir gucken uns an und denken beide
dasselbe: Hätten wir uns heute Nachmittag doch bloß für diese Herberge
entschieden. Wie in den meisten Herbergen am Weg stehen auch in dieser Rechner
mit angeschlossenem Münzeinwurf; diese hier funktionieren einwandfrei. Mit
einem Euro verschafft man sich für ganze zwanzig Minuten einen Zugang zur
Außenwelt.
Meine Eltern haben auf meine
E-Mail geantwortet. Nur so viel: So richtig super finden sie nicht, wie ich das
geregelt habe. Verständlicherweise. Ich schaffe es gerade noch, zwei E-Mails
loszuschicken, als auch schon der Rechner abstürzt. Immer das Gleiche mit
1&1. Seit man die E-Mails nur noch mit einem monströsen Programm abrufen
kann, schmiert die Seite auf schwachen Rechnern gnadenlos ab. Und das ist noch
längst nicht alles, was diese Firma draufhat. Beispielsweise war ich mal
DSL-Kunde bei denen und konnte fast zwei Wochen lang keine Internetverbindung
aufbauen. Mir entstanden Hotline-Kosten von über vierzig Euro, weil die Deppen
es nicht geschafft haben, die Fehlerquelle zu finden. Natürlich lag es an
denen. Eine Erstattung der Kosten verweigerten sie natürlich, was eine
sofortige Vertragskündigung nach sich zog. Plötzlich meldeten sich permanent
1&1-Telefonaffen bei mir, um sich zu entschuldigen und mir supergeheime
Sonderangebote zu unterbreiten. Ich fragte sie, ob sie mir die Hotline-Kosten
erstatten würden. Sie verneinten. Keine weiteren Fragen.
Solange Melanie
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