Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
am Rucksack.
Etappe 3: Santo Domingo de la
Calzada — Belorado (23,5 km)
Mittwoch, 2. September 2009
Vor dem Abmarsch kümmere ich
mich um meine selbstgebastelten Schuheinlagen. In mehreren Monaten hat es der
orthopädische Techniker in Hamburg nicht geschafft, mir passende Einlagen
anzufertigen. Kurzerhand habe ich vor etwa einer Woche Zwischeneinlagen aus
Moosgummi gebaut, die die Fehler der professionellen Einlagen ausgleichen. Die
federn ziemlich gut ab, allerdings drücken sie an den Fersen, weshalb ich
spontan mit meinem Taschenmesser nachbessere. Vor einigen Monaten noch dachte
ich, dass Schuheinlagen eine hochsensible Sache seien, inzwischen aber denke
ich etwas pragmatischer. Meine Füße sind endlich in der Lage, längere Distanzen
auszuhalten, und das verdanke ich weder promovierten Fachidioten noch
erfahrenen Herstellern, sondern einzig und allein mir.
Ohne Frühstück laufen wir, das
übliche Quartett plus Lory, von Belorado aus über staubige Feldwege ins
sechseinhalb Kilometer entfernte Villambistia. Hätte ich das vor einem halben
Jahr gemacht, ich wäre einfach zusammengesackt. Der morgendliche Spaziergang
gestaltet sich bei Temperaturen um zwölf Grad Celsius, kühlen Nebelschwaden und
wolkenverhangenem Himmel angenehm und mühelos. Wieder sind wir überwiegend auf
Feldwegen zwischen abgeernteten Feldern unterwegs. Die Kornkammer Spaniens
macht seinem Namen alle Ehre.
Da ich bekennender Morgenmuffel
bin und vor zwölf Uhr mittags meine schlechte Laune wie ein liebgewonnenes
Haustier hege und pflege, laufe ich etwas zurückgefallen allein, um den anderen
mit meinem lustlosen Gesichtsausdruck nicht die Motivation zu nehmen. Außerdem
merke ich allmählich, dass mir das Alleinlaufen besser liegt. Zwar ist es
wunderbar, sich beispielsweise mit Avril zu unterhalten, aber um sich gewisse
Gedanken gestatten zu können, braucht man einfach seine Ruhe. Noch allerdings
wollen sich bei mir keine weltbewegenden Gedanken einnisten, zu viele Eindrücke
müssen verarbeitet werden. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mir
bewusst zu machen versuche: Ich laufe den Jakobsweg. Echt jetzt. Ich!
Unfassbar. Also zücke ich immer wieder meine Kamera, um das alles hier später
mit einem gewissen Abstand betrachten zu können. Wenn ich nämlich jetzt so auf
diese Landschaft blicke, kommt bei mir in meinem Innern nichts an. Ich sehe
diese Hügel dort mit den Höhlen, ebenso sehe ich klar und deutlich die nicht
enden wollenden Felder um mich herum. Aber ich werde mir einfach nicht richtig
bewusst, dass ich hier bin und dass das, was ich sehe, meine momentane Realität
bedeutet. Mit den Mädels an meiner Seite fühle ich mich bestens aufgehoben, ich
sehe mich keineswegs als einen Fremden, der gerade zur falschen Zeit am
falschen Ort unterwegs ist. Nur verspüre ich beim Anblick der Landschaft kaum
mehr Seele als bei der Begehung einer Filmkulisse. Ich hoffe, dass sich das
bald ändert.
Nach etwas über einer Stunde
bekomme ich in Villambistia mein wohlverdientes, obligatorisches Frühstück: café
con leche und bocadillo, Standard. Wir hocken uns vor die Bar
gegenüber eines verfallenen Hauses, ich strecke meine Beine aus und entspanne
mich ein wenig. Die Tische und Stühle dieser Bar sind grün und preisen die Biermarke
San Miguel an. In der Bar in Grañón waren sie rot und warben für Coke. Gar
nicht so ungeschickt, diese Art der Kommunikation. Nicht nur, dass man damit
den durstigen Pilgern permanent vor ihre Pilgerstäbe hält, was sie zu trinken
haben. Durch die Verknüpfung der Marke mit einem positiven Erlebnis, und eine
Rast mit café con leche und bocadillo ist definitiv eines, wird
die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass viele der Jakobspilger auch nach ihrer
Rückkehr auf die beworbenen Getränke zurückgreifen werden, einfach der
Erinnerung wegen. Einen ähnlichen Effekt kann man auch bei anderen Rückkehrern
beobachten. So konsumieren beispielsweise junge Menschen, die eine gewisse Zeit
in den Staaten verbracht haben, nach ihrer Rückkehr Marken wie Ben &
Jerry’s oder suchen vermehrt Starbucks-Filialen auf.
Trotz des mäßigen Wetters ist
Michelle extrem gut gelaunt, und das hat einen triftigen Grund: Für zwei
Etappen lässt sie sich ihren viel zu schweren Rucksack von einem
Gepäcktransportservice fahren. Ja, es gibt tatsächlich einen
Gepäcktransportservice, so wie zahlreiche weitere Dienste für den
zahlungswilligen Pilger von heute. Angepriesen werden sie auf unzähligen,
Weitere Kostenlose Bücher