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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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mies
gestalteten Aushängen in den Herbergen. Der Gepäcktransportservice funktioniert
folgendermaßen: beim hospitalero nachfragen, Zielherberge angeben und
möglichst noch am selben Tag dort hinlaufen. Im nächsten größeren Ort,
wahrscheinlich Burgos, möchte Michelle einige Ausrüstungsgegenstände
aussortieren und nach Hause schicken; so wie unzählige Pilger vor und nach ihr.
Nun trägt sie lediglich eine knallgrüne Leinentasche mit einigen Wäschestücken
und Proviant bei sich.
    Auf dem Weg Richtung
Villafranca Montes de Oca am Fuße der Oca-Berge beginnt der tiefgraue Himmel
kaum merklich aufzuklaren. Zur Steigerung der allgemeinen Laune tragen auch
noch ein paar bekannte Gesichter bei: die blonden Mädels, die uns bereits in
Nájera und Santo Domingo de la Calzada begegnet sind, sowie deren männliche
Begleitung schließen sich uns an. Ewa und Paulina wirken wie Zwillinge, sind
aber weder verwandt noch verschwägert, sondern beste Freundinnen. Und Michal
ist Ewas älterer Bruder, selbstverständlich ebenfalls blond. Das junge Trio aus
Polen startete in Saint-Jean-Pied-de-Port. Natürlich erinnert sich Avril an den
betörenden Gesang der beiden Mädels und bringt ihnen ein mehrstimmiges
englisches Kinderlied bei. Die beiden lernen schnell, und so singen sie zu
dritt zum Rhythmus unserer Schritte — ratsch, ratsch, ratsch — verschiedene
englische und polnische Lieder. Ich meine auch noch lateinische Choräle
herauszuhören, aber vielleicht bilde ich sie mir nur ein. Jedenfalls erinnert
mich das alles an eine fröhliche Klassenfahrt. Die Unbekümmertheit sorgt dafür,
dass wir recht zügig vorankommen. Auf einem Leitpfosten an einer Landstraße
steht: »dennis peters dein Tagebuch liegt
in der casa paderborn bitte melde dich dort! Amie & Anna ’09«.
Kleine Anmerkung dazu: Bei der »Casa Paderborn« handelt es sich um eine
Herberge in Pamplona, betrieben vom Freundeskreis der Jakobspilger Paderborn.
Und Pamplona liegt bereits hundertachtzig Kilometer hinter uns. Ich kann Dennis
Peters’ Gesicht, als er hier an dieser Stelle stand, an der ich jetzt stehe,
und auf diesen Pfosten starrte, auf den ich jetzt starre, regelrecht vor mir
sehen.
    Bald müssen wir auf dem
Seitenstreifen der Nationalstraße N-120 entlanglaufen. Knapp anderthalb Meter
neben uns donnern die giftspuckenden Laster vorbei. Wüsste zu gern, wie viele
Pilger hier auf der Strecke bleiben, einfach so wegradiert von einem unachtsamen
Lkw-Fahrer. Um kurz vor halb zwölf laufen wir in Villafranca Montes de Oca ein,
einem Straßendorf am Fuße der Oca-Berge. Mein Wanderführer weiß zu berichten,
dass es im Mittelalter als ziemlich leichtsinnig galt, allein in die Berge zu stapfen.
Dort lauerte nicht nur die Gefahr sich gnadenlos zu verirren, sondern auch der
eine oder andere bis an die Zähne bewaffnete Räuber, der nur darauf wartete,
einem ahnungslosen Pilger die Kehle aufzuschlitzen. Nun ja, so weit geht mein
Wanderführer nicht, aber ein bisschen die Fantasie spielen lassen wird man ja wohl
noch dürfen. Zumindest warteten die Pilger solange in Villafranca, bis sich
eine größere Gruppe ansammelte, um sich schließlich gemeinsam nach San Juan de
Ortega durchzuschlagen. Bezeichnenderweise besagt ein kastilisches Sprichwort: Si
quieres robar, vete a Montes de Oca. Wenn Sie rauben wollen, gehen
Sie in die Oca-Berge. Ein zeitloser Protestsatz gegen Halsabschneider. Ganz so
schlimm ist es heutzutage nicht mehr, allerdings gilt die Überquerung der
Montes de Oca als recht beschwerlich. Trotzdem wollen wir heute noch bis nach
Agés, was für uns eine Reststrecke von gut sechzehn Kilometern bedeutet.
    Vor der knapp zweihundert Jahre
jungen Iglesia de Santiago Apóstol (deutsch: Apostel-Jakobus-Kirche) legen wir
erneut eine kurze Rast ein. Die Kirche wurde dort erbaut, wo früher eine
Kathedrale stand. Tatsächlich war dieses hässliche, unscheinbare Kaff vor einer
halben Ewigkeit Bischofssitz, was allerdings bereits gut tausend Jahre her ist.
Ungefähr so alt muss die Klotür in dem kleinen Gemischtwarenladen an der
Hauptstraße sein, denn die lässt sich nicht richtig abschließen. Außerdem fehlt
von der Klorolle jede Spur. Dem Pilger von heute empfehle ich wärmstens, immer
ein bisschen Klopapier mit sich zu führen; einen Nachteil dieser
Vorsichtsmaßnahme habe ich bis jetzt nicht entdecken können. Im etwas schummrig
wirkenden Laden decken wir uns mit Proviant ein. Ich greife mir zwei
eingeschweißte Schokoteilchen mit höchstwahrscheinlich

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