Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
nach Cardeñuela Ríopico. Auf dem Ortseingangsschild
steht »Cardeñuela Río Pico«. Ríopico oder Río Pico, das ist hier die Frage. Und
die lässt sich nicht so einfach beantworten. Denn die Schreibweise »Río Pico«
finden wir nur auf dem Ortseingangsschild. Auf allen Karten, Dokumenten und
auch in unseren Wanderführern steht »Ríopico«. Um die Verwirrung zu
komplettieren, heißt das Bächlein nebenan wiederum Río Pico. Wahrscheinlich ist
das den Leuten hier scheißegal, Hauptsache die Häuser stehen und die Pilger
lassen das Geld da. Grundsätzlich haben wir nichts dagegen einzuwenden, und da
sich Avrils Wadenprobleme verstärken, legen wir eine weitere Rast in der
örtlichen Bar ein. Dort treffe ich Kazuko wieder, die Japanerin von gestern
Abend. Wir schießen schnell ein paar Fotos von uns beiden, und schon sind
Avril, Melanie und ich wieder unterwegs.
Ab und an donnern mächtige
Trucks an uns vorbei. Hier muss es so etwas wie einen Steinbruch in der Nähe
geben, jedenfalls pusten uns die Monster in unschöner Regelmäßigkeit eine
trockene Portion Schadstoffe ins Gesicht. Nachdem wir das Straßendorf Orbaneja
Ríopico passiert und eine Autobahnbrücke überquert haben, erwartet uns die in
meinem Wanderführer erwähnte Abzweigung. Geradeaus geht es durch das
sagenumwobene, angeblich unermesslich schreckliche Industriegebiet, links
Richtung Alternativroute, für die wir uns entscheiden. Da sie noch relativ neu
ist, versprüht sie nicht besonders viel Charme. Beispielsweise führt sie durch
den Ort Castañares, an dem der Camino bisher vorbeiführte. Nun schießen
plötzlich Brunnen, Herberge und Bars wie Pilze aus dem Boden. That's camino
business. Geradeaus stapfen wir nach Burgos, aber von dem »wunderschönen
Bachlauf«, der in meinem Wanderführer angekündigt wird, ist überhaupt nichts zu
sehen. Stattdessen schleppen wir uns durch Wohngegenden, die aussehen wie am
Reißbrett für Disneyland entworfen. Früher, als sich die Leute selbst um ihr
eigenes Haus kümmerten, sah alles hübsch und harmonisch aus. Aber irgendwann
tauchten die Stadtplaner auf, jene Hexenmeister, die den Wohnraum fremder
Menschen entwarfen. Berücksichtigen sollte er die Infrastruktur, geologische
Voraussetzungen, die Verfügbarkeit der Baumaterialien, die Baukosten, praktisch
alles, nur nicht die Menschen. Wenn man für sich und seine Familie baut, steckt
Herzblut drin. Wenn man für irgendwen baut, bringt man die Personen eben nur
unter. Grässlich. Kein Wunder, dass die Spanier vor Einbruch der Dunkelheit
kaum vor die Tür gehen.
Apropos hässlich. Seit tausend
Jahren laufen Pilger einen ganz bestimmten Weg entlang, lassen eine Menge Kohle
da und erzählen nach der Rückkehr in ihre Heimatländer herum, wie es, sagen wir
mal, um Burgos herum so aussieht. Für welche Areale würde ich als Stadtplaner
Baugenehmigungen für Schrottplätze, Gewerbehöfe, Industrie- und
Müllverbrennungsanlagen erteilen? Teilweise macht die Umgebung auf mich den
Eindruck, als habe man hier von diesem Camino de Santiago noch nie etwas
gehört. Während ich etwas gedankenverloren vor mich hin sinniere, werde von
Melanie in die Camino-Realität zurückgeholt.
»Siehst du irgendwo Pfeile?«,
ruft sie mir zu.
Ich blicke mich um. Nix. Ich
krame meinen Wanderführer aus der Hüfttasche und bemerke nach genauem Studium
der Karte: Der Weg im Wanderführer verläuft südlich des Bachlaufs, wir befinden
uns eindeutig nördlich davon. Da wir bis vor wenigen Minuten noch gelben
Pfeilen und Muschelwegweisern gefolgt sind, nehme ich mal an, es existiert eine
Alternative der Alternative. Nur: Wieso hört unsere Alternative plötzlich auf
zu existieren? Wir sind doch einfach nur geradeaus gelaufen.
»Lasst uns einfach
weitergehen«, schlage ich vor. »Wir müssen so oder so immer weiter in die
Richtung laufen.«
Avril allerdings steht am Rande
eines Nervenzusammenbruchs Ihre Waden schmerzen, und die Hitze macht ihr zu
schaffen. »Bist du dir sicher?«, fragt sie mich gereizt. »Lass uns nachfragen.«
»Ich bin mir sicher«, erwidere
ich und bestätige das Vorurteil dass Männer lieber zehn Kilometer in die
falsche Richtung laufen als einmal nachzufragen. Was auch gar nicht auf mich
zutrifft, ich frage immer nach, wenn nötig. Aber hey, der Camino verläuft nun
mal die ganze Zeit Richtung Westen, falls es noch niemandem aufgefallen sein
sollte.
»Ich habe keine Lust mich zu
verirren«, knatscht Avril.
Melanie seufzt und erklärt sich
bereit, in einem
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