Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Orientierungssinn. Unterwegs beginnt Avril, lauthals über
Wolfgang zu schimpfen, was der aber nicht mitbekommt, denn seine
Englischkenntnisse und der Orientierungssinn sind beste Freunde. Nachdem wir
die spektakuläre Catedral de Santa María umrundet haben, stehen wir endlich vor
der hochmodernen Großherberge im Schatten des gerade aufwändig restaurierten
gotischen Monumentalbaus. Am Interieur der albergue hätte Walter Gropius
sicherlich nicht viel auszusetzen. Wir werden im fünften Stock untergebracht,
und Avril fällt sogleich in voller Montur in einen komatösen Schlaf.
Wahnsinn. Was für eine
anstrengende, nervenaufreibende Etappe. Heute Morgen dachte ich noch, dass ich
einen entspannten Spaziergang vor mir hätte. Wie naiv. Ich muss erst einmal
Gedanken ordnen, sonst platzt mir der Kopf. Als ich mich duschen gehen möchte,
fällt mir auf, dass ich mein Shampoo in Agés vergessen habe. Ich krieg’ zu
viel, was für ein beschissener Tag! Shampoo vergessen ist doch total
klischeehaft. Hätte ich nicht wenigstens etwas Außergewöhnliches vergessen
können? Beispielsweise ein Hosenbein, dann hätten wir alle heute Abend etwas zu
lachen. Immerhin können mich die sanitären Anlagen ein wenig aufheitern. Alles
befindet sich in einem einzigen, quadratischen Raum. Man duscht sich also neben
der Kloschüssel oder scheißt neben der Dusche — wundervoll. Noch besser: der
Bewegungsmelder für die Beleuchtung. Sitzt man eine Weile auf dem Pott,
erlischt das Licht. Möchte man also das Ganze nicht im Dunkeln erledigen,
wedelt man alle paar Sekunden wie ein Depp mit den Armen herum. Würdevoll,
wirklich.
Im riesigen, avantgardistisch
eingerichteten Aufenthaltsraum treffe ich die junge Koreanerin Eun Hee wieder,
ebenso das Polska-Trio Ewa, Paulina und Michal. Besonders freut es mich zu
sehen, dass es Eun Hee ausgezeichnet geht. Wir hatten sie ja schon ein wenig
aus den Augen verloren. Und während ich hier meine Notizen vervollständige,
brüllt hinter mir eine Spanierin los, dass ich heftig zusammenzucke. Was soll
das denn jetzt? Nicht nur ich, alle hier im Raum drehen sich zu ihr um. Sie telefoniert.
Tut aber so, als sei das Telefon gar nicht da, und der Mensch am anderen Ende
müsste sie auch so hören. Als sie unsere Blicke registriert, verlässt sie den
Raum. Das bringt aber nichts, denn ihre Stimme bleibt einfach da. Heftig.
Schnauze voll von der
brüllenden Tante, also schnell raus. Melanie und ich wollen es uns noch einmal
so richtig touristisch geben und sehen uns die komplette Kathedrale an. Frisch
geduscht und in Freizeitklamotten ist Melanie auch nicht mehr ganz so mies
gelaunt. Außerdem haue ich einen flachen Witz nach dem anderen raus, bis sie
kapituliert.
Die Kathedrale von Burgos ist
auch für einen Atheisten wie mich ein Wunderwerk menschlicher Schaffenskraft.
Ursprünglich auf einem kreuzförmigen Grundriss basierend, wurden im Laufe der
Jahrhunderte etliche Kapellen, ein zweistöckiger Kreuzgang und weitere
Einrichtungen angebaut. Nur noch aus der Luft ist das Kreuz zu erkennen. Bei
der Umrundung vorhin sahen wir lediglich einen gewaltigen, überverzierten
Steinklumpen. Der Besucher wird ganz einfach vom monumentalen Ausmaß des unesco Weltkulturerbes erschlagen. An
der Südwestfassade ragen zwei achtundachtzig Meter hohe, weitestgehend
identische, spitz zulaufende Türme in den Himmel. Eine Besonderheit bildet die
Fensterrose der Hauptfassade, in die auf Wunsch der jüdischen Spender ein
Davidstern eingearbeitet ist. Betritt man den Innenraum, so weil man zunächst
einmal überhaupt nicht, wo man hinsehen soll. Der Innenraum ist über fünfzig
Meter hoch und reichlich verziert. Genau unter dem Vierungsgewölbe liegt der
spanische Nationalheld El Cid mit seiner Frau Jimena Díaz begraben, was beim
Fotografieren stört, aber da lassen die Spanier wahrscheinlich nicht mit sich
reden.
Knapp
dreihundertsechsundvierzig Jahre liegen zwischen Baubeginn und Vollendung. Und
das sieht man jedem Quadratzentimeter dieses Bauwerks an. Schon wieder wird uns
vor Augen geführt, zu welch unfassbaren Taten eiserner Wille und
unerschütterliche Überzeugung anspornen können. Über Jahrhunderte ackerten
Tausende hochtalentierter Künstler und Genies an dem Bauwerk; entweder aus
Gottesfurcht, oder um beim herrschenden König wie Klerus und damit gleichzeitig
in der Gesellschaft gut dazustehen. Beides überaus menschlich. Fasziniert
blicke ich auf den vom herausragenden burgundischen Bildhauer Felipe
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