Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
soll sich hier irgendwo ein Geldautomat oder eine Bank befinden,
doch vom Castrojerizer Bankenviertel fehlt jede Spur. Nicht einmal in der
»Innenstadt«, bestehend aus drei Geschäften, einem Verwaltungsgebäude und der
Post, werde ich fündig. Langsam wird mein Bargeld knapp; wie unangenehm. Dafür
erwartet mich gegenüber den Geschäften eine weitaus größere Freude: Marie-Chantal!
Als ob sie schon ahnt, dass wir uns nicht mehr wieder sehen werden, übergibt
sie mir einen wunderschön kitschigen Aufkleber mit ihrem Namen, ihrer Anschrift
und der E-Mail-Adresse. Wir umarmen uns zum Abschied, und tatsächlich sehe ich
sie nie mehr wieder.
Hinter Castrojeriz geht es über
ausgedörrte Feldwege geradeaus auf eine Bergkette zu. Ungefähr eine halbe
Stunde lang hoffe ich auf einen Tunnel, der sich bitteschön irgendwo auftun
möge. Leider vergeblich. Stattdessen liegen nun äußerst anstrengende einhundert
Meter vor mir. Höhenmeter wohlgemerkt. Die Sonne knallt mir inzwischen
mit Inbrunst in den Nacken, der Aufstieg ist steil und kräftezehrend. Wie aus
dem Nichts taucht plötzlich Iguchi-san auf, ein etwa sechzig- bis
siebzigjähriger Japaner. Den habe ich bereits in Nájera und Burgos gesehen. Bis
Burgos war er gemeinsam mit einem überaus rotzig sprechenden Katalanen
unterwegs, im Moment ist Iguchi-san allerdings ganz allein. Mit seinem
Stirnband und der gebeugten Haltung wirkt der kleine, glatzköpfige Senior wie
ein traditioneller japanischer Zimmermann auf dem Weg zur nächsten Baustelle.
Der Mann strotzt nur so vor Energie. »Wohin läufst du heute?«, fragt er mich.
»Nach Frómista«, antworte ich.
Iguchi-san ist heute Morgen in
Hornillos del Camino gestartet, etwa zehneinhalb Kilometer vor Hontanas, und
möchte bis Itero de la Vega oder Bocadillo City kommen. Wahrscheinlich werde
ich auch ihn nicht mehr allzu häufig treffen. Wir wünschen uns einen buen
camino, und schon wetzt er wie ein Tier den Berg hoch.
Keuchend kraxle ich hinterher.
Der sagenhafte Panoramablick auf die weite, wie ein Flickenteppich gescheckte
Landschaft hält die Anstrengungen in erträglichem Rahmen. Allerdings setzt der
Abstieg kurze Zeit später noch einen drauf. Soweit das Auge reicht strecken
sich die bereits vertrauten abgeernteten Felder bis zum Horizont. Diese
unfassbare Weite ist einfach überwältigend. Von hier aus kann ich so brutal
weit sehen, auch, wie sich der Camino zwischen all den Feldern außer Sichtweite
schlängelt. Über die kommenden Stunden denke ich besser erst gar nicht nach.
An alles und nichts denkend
marschiere ich etwa eine Stunde lang in der sengenden Hitze über den schmalen
Schotterweg. Rund drei Kilometer vor Itero de la Vega steht ein älterer Herr am
Straßenrand und bietet Erfrischungen an. Auf Spanisch fragt er mich, wie weit
ich heute noch zu laufen gedenke. Ich antworte: »A Frómista«, und schon
drückt er mir einen Flyer in die Hand. Da gebe es eine nagelneue Herberge, ganz
toll, ich solle doch unbedingt dort vorbeischauen. Für den Tipp bin ich mehr
als dankbar, schließlich kennt mein Wanderführer nur eine Herberge in Frómista,
eine städtische, nicht so toll.
Über eine stattliche, steinerne
Brücke, der im elften Jahrhundert erbauten und im siebzehnten Jahrhundert
runderneuerten Puente Fitero, laufe ich nach Itero de la Vega. Um diese Zeit
treiben sich nur ein paar Kinder auf der Straße herum, die sich kaputtlachen,
als ich vor ihren Augen leicht stolpere. Das verdeutlicht, wie wenig in Itero
de la Vega sonst so los sein muss. Kurz hinter dem Dorf lege ich eine Rast ein.
Gut zwanzig Kilometer liegen hinter mir, vierzehn warten noch auf mich. Nach
den etwas anstrengenden letzten Kilometern erhoffe ich mir einen kurzen
Augenblick der Ruhe. Vergeblich. Sekunden, nachdem ich mich auf eine kniehohe
Mauer vor einer geschlossenen Werkstatt gehockt habe, werde ich von einer
Busladung österreichischer Modepilger überrollt. Ihr Alter liegt
schätzungsweise zwischen zwanzig und vierzig, sie sehen topfit aus, wieso also per
Bus? Manche von ihnen tragen nicht einmal Rucksäcke, dafür sind sie mit
hochmodernen Carbon Wanderstöcken und teuersten Outdoor-Klamotten ausgestattet.
Aber da ich mir vor dem Camino fest vorgenommen habe, zu allen
Pilgerbekanntschaften erst einmal freundlich zu sein, grüße ich sie
entsprechend. Das ist der drahtigen Blondine aus der Alpenrepublik
wahrscheinlich bisher nicht allzu häufig passiert. Was mich nicht verwundert;
die meisten Pilger fühlen sich durch
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