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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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aber die machen auch nur ihren Job.
    Ich bin schwer abgewetzt,
schlafe jede Nacht mit zig Schnarchnasen im selben Raum, und dank der Sonne
pellt sich die Haut von meinem linken Ohr, es blutet wie Sau. Trotz allem fühle
ich mich glücklich wie schon lange nicht mehr. In meinem ganzen Leben habe ich
mich noch nie so angestrengt, ich spüre regelrecht, wie das ganze faule Gift
aus meinem Körper, aus meinem Kopf gepresst wird. Neben mir sitzt Karin aus
Deutschland, ich schätze sie mal auf Mitte fünfzig. Eine sehr ruhige, bedachte
Zeitgenossin, die auf mich einen zwar etwas nachdenklichen, aber auch recht
entspannten Eindruck macht. Letztes Jahr ist sie den Weg von León aus gegangen;
dieses Jahr startete sie in Saint-Jean-Pied-de-Port.
    »Die Pyrenäen stecken mir immer
noch in den Knochen«, sagt sie. Aber sie ist zuversichtlich, dass sie es
schafft.
    Sie ist mir auf Anhieb
sympathisch, und schon schwirrt mir zum wiederholten Male das Dilemma durch den
Kopf, das ich mir gerade aufhalse: Einerseits möchte ich meine Etappendistanzen
bis zum Anschlag ausreizen, um endlich meine physischen und psychischen Grenzen
auszuloten. Andererseits werden dadurch nahezu sämtliche Pilgerbekanntschaften
nur flüchtige Begegnungen bleiben. Die meisten Pilger laufen zunächst allein,
bevor sie ihre Pilgerfreunde finden. Ich hoffe nicht, dass es bei mir genau
umgekehrt ist und ich ab jetzt allein nach Santiago laufen werde. Ein bisschen
allein sein ist okay, aber nicht die restlichen vierhundert Kilometer.
    Und wenn schon, ich werde den
Weg so gehen wie ich fühle, bisher hatte ich doch auch Glück, unverschämtes
Glück, mit den Herbergen, den Bekanntschaften, verletzt habe ich mich bisher
auch nicht. Mein Ohr protestiert gerade, okay, ab morgen wirst liebevoll eingecremt.
Meine Güte, wie das blutet. Ich dachte, ein Ohr sei einfach nur ein
Knorpelklumpen. Auf jeden Fall führt mir der heutige Tag vor Augen, dass ich
meinem Bauchgefühl vertrauen kann. Natürlich habe ich mich heute Morgen davor
gefürchtet, am Ende des Tages allein zu sein. Jetzt sitze ich hier mit Marcos
und Karin entspannt in der Sonne, fernab von leidlichen Etappendiskussionen und
Beziehungsdramen. Meine Angst, am Ende des morgigen Wandertages allein zu sein,
schwindet. Drei einfache Worte: Es wird schon.
     
    Nach zwei Stunden des Wartens
stellen Marcos und ich endgültig fest, dass Avril und Co. nicht mehr auftauchen
werden. Wir verlassen die Herberge und laufen die Hauptstraße entlang.
Gegenüber der Iglesia de San Pedro, einer romanisch-gotischen Kirche mit
ungewöhnlicher Renaissance-Fassade aus dem sechzehnten Jahrhundert, setzen wir
uns vor eine Bar und gönnen uns ein kaltes Bier. Wir sprechen nicht viel,
lauschen den Einheimischen, die langsam auf die Straße drängen, und ergänzen
unsere Notizen. Plötzlich hören wir einen ohrenbetäubenden Radau, und eine
Drei-Mann-Kapelle kommt lautstark musizierend um die Ecke marschiert. Völlig
verrückt. Bald verschwinden sie in einer Seitengasse, um wenige Minuten später
urplötzlich aus einer anderen wieder herauszutanzen. Die Dorfbewohner scheinen
überhaupt nichts Außergewöhnliches daran zu finden, sie lächeln milde, das ja,
aber nach wenigen Sekunden gehen sie wieder ihren jeweiligen Beschäftigungen
nach.
    Als ich meine Fotos betrachte,
die ich heute im Laufe des Tages geschossen habe, entdecke ich etwas Lustiges.
Heute Morgen um kurz vor zehn habe ich ein Bild vom Camino mit der Burgruine
von Castrojeriz im Hintergrund aufgenommen. Im Vordergrund maximal zehn Meter
vor mir, läuft gerade ein Pilger ins Bild. Erst jetzt erkenne ich: Es ist
Marcos! Eigentlich hätte ich ihn an der Isomatte erkennen müssen, habe ich aber
nicht. Hatte ja genug mitmir selbst zu tun.
    So langsam beginnt der Magen zu
knurren. Marcos entscheidet sich für die günstige Variante: bocadillo mit Thunfisch. Mir würde das heute nicht reichen, also besuche ich das
Restaurant »Villa Frómista«, das nur wenige Meter von der Herberge entfernt auf
der anderen Straßenseite liegt. Da es mir drinnen etwas zu gesellig zugeht,
setze ich mich, an einen der roten Estrella-Galicia-Tische.
    Für neun Euro serviert der gut
gelaunte Herr des Hauses dem einzigen Pilger am heutigen Abend ein recht
passables Pilgermenü. Wenn der Körper eine Menge von allem benötigt, ist so ein
Pilgermenü genau das Richtige. Besonders die Vorspeise, leicht eingekochtes
Gemüse, schmeckt fantastisch. Ich lasse es mir schmecken und trinke ordentlich
Wein.

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