Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Der ist zwar nicht gut, aber das interessiert mich nach vierunddreißig
Komma sieben Kilometern auch nicht mehr. Während ich so dasitze, denke ich über
die vergangenen Tage nach. Ob es der Wein ist oder meine allgemeine Gemütslage,
kann ich nicht sagen, aber ein Gedanke beschäftigt mich gerade ganz besonders.
Ich bin von Natur aus ein Entertainer. Meine Sucht nach guter Stimmung um mich
herum verführt mich dazu, immer wieder den lustigen Teil eines Moments zu
suchen. Zu jeder Situation, sei es gerade noch so unpassend, fällt mir
irgendetwas Flapsiges ein. In gut neunundneunzig Prozent der Begegnungen mit
anderen Menschen werde ich auf die Rolle des Entertainers reduziert. Für diese
Leute bin ich einfach der Dummschwätzer, der Typ, der nie ernst sein kann, der
null Contenance besitzt, ein ewiger Kindskopf. Mir ist schon klar, dass ich von
solch oberflächlichen Pappnasen nichts anderes zu erwarten habe und dass sie
mir vollkommen egal sein müssten. Trotzdem ärgere ich mich immer wieder
darüber. Andererseits habe ich mir dadurch unbewusst einen recht zuverlässigen
Indikator aufgebaut, denn aus den wenigen Malen, in denen mir das nicht
widerfahren ist, sind Freundschaften und Beziehungen entstanden. Vielleicht ist
es schlicht reine Gier, purer Luxus, mehr zu wollen. Menschen tendieren
grundsätzlich dazu, sich über die Leute aufzuregen, die abgesagt haben, als
sich über die zu freuen, die erschienen sind.
Ein zweiter Gedanke, der mir
kommt, betrifft Ingo. Auf dem gestrigen Weg von Burgos nach Hontanas sagte er,
wenn man mit einem Verhalten eines anderen Menschen ein Problem habe, sei es
eigentlich ein Problem mit sich selbst. Diese Aussage bezog sich auf Lorys
Verhalten bezüglich der Etappenwahl vor Burgos, das Schlechtreden meiner
Alternativstrecke. Aber wie so oft im Leben lässt sich auch diesmal nicht so
einfach eine allgemeingültige Regel aufstellen. Meiner Meinung nach gibt es
nämlich sehr wohl so etwas wie grundloses Aufregen. Einfaches Beispiel: Nehmen
wir einmal an, ich wäre sauer auf Herbert, ließe es aber an Anna aus, obwohl
sie mit Herbert überhaupt rein gar nichts zu tun hätte. Nach Ingos Aussage
hätte Anna ein Problem mit sich selbst wenn sie eines mit meinem fragwürdigen
Verhalten hätte. Aber wenn sie nicht einmal weiß, worum es geht, wie sollte sie
mein Verhalten akzeptieren können? Im Endeffekt hieße es, dass niemand mehr auf
irgendjemanden Rücksicht nehmen müsste. Und das wäre die totale Anarchie. In
Lorys und meinem Fall sehe ich die Sache zwiespältig. Einerseits hätte ich mich
nicht so aufregen müssen, schließlich stand für mich selbst ja schon fest,
welchen Weg ich laufen würde. Andererseits brachte Lory in dem Moment völlig
unnötig eine dermaßen schlechte Stimmung in die Diskussion, dass ich mich
gestört fühlen musste. Schließlich ging es ja nicht nur um mich, sondern auch
um Avril und Michelle. Wenn man merkt, dass jemand die Gruppendynamik ins
Wanken bringt, muss man dem entgegenwirken, völlig gleich, wie sehr man sich
der inneren Ausgewogenheit verpflichtet fühlt. Ergo, Notiz an mich: Wenn ich
sauer bin, sollte ich meine Wut kanalisieren und abbauen, nicht streuen.
Etappe 7: Hontanas — Frómista
(34,7 km)
Sonntag, 6. September 2009
Um halb sieben, so die
Herbergsregel, der wir uns alle zu beugen haben, presse ich mir ein
einigermaßen akzeptables Frühstück rein. Wenn man bedenkt, dass ich
normalerweise erst gegen neun den ersten, zarten Anflug von Appetit verspüre,
die reinste Qual. Immerhin beginnt der halbe Liter café con leche ziemlich schnell zu wirken. Gegen halb acht machen Marcos und ich uns auf den
Weg. Marcos lässt seine Isomatte in der Herberge zurück, sie ist ihm dann doch
ein wenig zu sperrig. Er hat sich heute die knapp zwanzig Kilometer bis Carrión
de los Condes vorgenommen, ich dagegen möchte meine Grenzen kennen lernen und
nehme die siebenunddreißig Kilometer bis Calzadilla de la Cueza ins Visier.
Nebenbei bemerkt bieten sich uns nur diese zwei Optionen; hinter Carrión de los
Condes gibt es nämlich siebzehn Kilometer lang nichts. Gar nichts. »Im Sommer
die frühen Morgenstunden nutzen«, empfiehlt mein Wanderführer. Wieso, werde ich
später am eigenen Leib erfahren. Insgeheim hoffe ich, dass Marcos mich nach
Calzadilla de la Cueza begleitet, schließlich verstehen wir uns blendend.
Zunächst geht es aber über die
ungemein windige Hauptstraße quer durch das ganze Dorf. Doch schon bald lassen
wir Frómista
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