Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
meiner
Prioritätenliste nach mir erst einmal lange nichts. Es scheint, als würde
morgen eine neue Stufe des Camino zünden, zumindest fühle ich einen
entscheidenden Einschnitt. Wir werden sehen.
Übrigens weist Marcos’
spanischer Wanderführer eklatant niedrigere Kilometerzahlen auf als die aller
anderen am Tisch. Er mutmaßt, dass Spanier vielleicht stärker motiviert werden
müssten, um den Camino zu gehen. Wir jedenfalls halten es für eine
ausgezeichnete Motivationshilfe, vor den Etappen in seinen Führer zu schauen,
um sagen zu können: »Vierundzwanzig Kilometer, easy peasy piece of cake !«
Und hinterher in die anderen, nach dem Motto: »Sagenhaft, schon wieder
achtundzwanzig Kilometer gelaufen!«
Etappe 6: Burgos — Hontanas
(31,6 km)
Samstag, 5. September 2009
Sowas gibt es auch nach einer
Woche auf dem Camino: Ich habe verschlafen. Die meisten Pilger haben den
Schlafraum verlassen, von meinen Mitpilgern hat mich niemand geweckt. Das
verstehe ich als ein Zeichen: Eine Trennung ohne Tränen, perfekt. Während meine
Mädels irgendwo im Ort ihr Frühstück einnehmen, verschwinde ich. Und zwar
allein, um heute endlich einmal mit mir selbst pilgern zu können, vielleicht
auch müssen. Schon nach den ersten Kilometern über schmale Feldwege merke ich,
dass mir die neu gewonnene Freiheit richtig gut tut. Die Stille, die wesentlich
höhere Konzentration auf die eigenen Gedanken, das eigene Lauftempo, dazu die
frische Morgenluft, Pilgerherz, was willst du mehr?
Weit und breit ist niemand zu
sehen, kein Wunder, es ist bereits halb neun. Einen wesentlichen Beitrag zu
meiner ausgelassenen Stimmung leistet der wolkenlose Himmel, die Sonne strahlt
und verspricht eine heiße Etappe. Einige Minuten laufe ich an einem
grasbewachsenen Hügel entlang, als auf der rechten Seite des Camino ein
steinernes Ding auftaucht. Als ich näherkomme, erkenne ich, dass es sich um
eine Ruine handelt. Kommentarlos steht das Ding wie ein ausgestreckter
Zeigefinger mitten im Gras. Es ist relativ hoch, schätzungsweise etwa sechs bis
sieben Meter, und gehörte eindeutig zu einem Gebäude, vielleicht einer Kirche,
ich fotografiere es, verwackelt, wie ich später feststelle, und gehe weiter.
Ich möchte gerade nicht abgelenkt oder gar von den anderen eingeholt werden.
Die Stunden mit mir selbst sind mir gerade Wichtiger als die Erforschung
mysteriöser Ruinen am Wegesrand.
Solange ich gemeinsam mit
anderen Pilgern gelaufen bin, habe ich mich nie auf die eigenen Schritte
konzentriert. Jetzt aber referiere ich jeden einzelnen, als müsste ich sie
separat erfassen, auswerten und absegnen. Und wenn man über alltägliche Dinge
zu sehr nachdenkt, kommen sie einem irgendwie seltsam und harmonisch vor. Ich
muss mich regelrecht wiederholt neu konzentrieren, um im Rhythmus zu bleiben.
Als ich beginne vor mich hin zu singen, klappt es gleich besser.
Fünfeinhalb Kilometer hinter
Hontanas führt der Camino auf einer mäßig befahrenen Landstraße unter dem
Bogengewölbe des ehemaligen Convento de San Antón hindurch. Der Konvent gehörte
dem Antoniter-Orden, der sich der Behandlung jener widmete, die am sogenannten
Antoniusfeuer erkrankt waren. Das Antoniusfeuer, eigentlich Ergotismus, bekommt
man durch den Verzehr von mit Mutterkorn verunreinigten Nahrungsmitteln. Im Mittelalter,
als es noch keine zwei Milliarden EU-Gesetze für Hygienestandards gab, stopfte
die Unterschicht massenweise Brot von minderer Qualität in sich hinein und
verreckte. Dem Konvent am Jakobsweg sagte man zur damaligen Zeit schier
wunderliche Heilungskräfte nach, dabei hatten die hier einfach nur anständiges
Brot auf Lager. So wie spanisches Brot heute schmeckt, müssen die Antoniter ihr
Backgeheimnis mit ins Grab genommen haben. Auch wenn die Mönche längst
verschwunden sind, hier folgt der Camino der Originalroute. Zwei steinerne
Spitzbögen spannen sich zwischen den Ruinen des Klosters und der Kirche über
die Straße, und seit über sechshundert Jahren laufen die Jakobspilger unter
ihnen hindurch gen Santiago de Compostela. Es fühlt sich großartig an, als
einer von Millionen Menschen aus mehreren Jahrhunderten mit demselben Ziel
unter den stolzen Bögen hindurchzulaufen. Über die von Bäumen flankierte
Landstraße geht es nach Castrojeriz, einem nierenförmigen Ort, über dem die
Ruine der im neunten Jahrhundert erbauten Burg thront.
Als ich über eine schmale
Abzweigung ins Dorf hineinlaufe, ist es bereits ganz schön heiß. Laut meinem
Wanderführer
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