Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
verabschieden sie herzlichst. Auch
von Eun Hee verabschieden wir uns. Sie sieht ziemlich geschafft aus. Kein
Wunder, diese zierliche Person trägt ein Vielfaches meines Rucksackgewichts,
auf Dauer geht das natürlich an die Substanz. Weitere bekannte Gesichter haben
bereits in der Herberge neben der Kirche eingecheckt und lassen sich in der
örtlichen Bar das Bier schmecken. Wir hocken uns vor die Kirche auf die flachen
Treppenstufen und legen eine ausgedehnte Rast ein. Während ich mein riesiges,
selbstgemachtes bocadillo verputze, genieße ich die letzten Stunden
inmitten der ersten Pilgergruppe meines Lebens.
Um halb drei verlassen wir
endlich das Nest. Avril bleibt zurück, um sich mit einem richtigen Mittagessen
zu stärken. Nach der gestrigen Erfahrung möchte sie die folgenden Restkilometer
gestärkt und mit Bedacht angehen, was besonders Melanie und ich mehr als
nachvollziehen können. Die restliche, zehneinhalb Kilometer lange Strecke führt
humorlos über eine schattenlose, knochentrockene Ebene. Mit den Wolken hat sich
glücklicherweise meine Schwermut verzogen. Obwohl es brutal heiß ist, geht es
mir blendend und ich unterhalte mich abwechselnd mit Michelle und Ingo. So
kommen wir ausgezeichnet voran. Eine halbe Ewigkeit laufen wir auf dem
staubigen Schotterweg durch abgeerntete goldgelbe Landstriche, passieren
ausgedörrte Sonnenblumenfelder und erinnern uns alle zwanzig bis dreißig
Minuten gegenseitig ans Trinken. Für einige Pilger war diese Strecke
offensichtlich etwas zu langweilig: In zahlreichen Sonnenblumenblüten wurden
durch das Herauspicken einzelner Kerne Smileys, Fantasiemuster oder Botschaften
wie »Love« hinterlassen.
Bald erreichen wir die auf
halber Strecke gelegene Herberge von San Bol. Bei San Bol handelt es sich um
ein seit 1503 vollständig verlassenes Dorf. Geblieben ist nichts, nicht einmal
Ruinen. Okay, hier liegen ein paar Steinhaufen herum, und wie wir in Villalval
gelernt haben, kann jeder Steinhaufen dieser Welt, sei er noch so hässlich und
erbärmlich, eine archäologische Sensation bedeuten. Aber diese hier, vermute
ich mal, sind einfach nur hässliche, erbärmliche Steinhaufen. Im Schatten
einiger Bäume lockt die berühmte, spartanische Pilgerherberge »Arroyo de San
Bol«, markiert mit einer riesigen, aufgemalten Jakobsmuschel. Seit einigen
Kilometern wirbt die als Zuflucht gedachte albergue mit » breakfast «,
allerdings fühlt sich niemand von uns bereit, auf sanitäre Anlagen und Strom zu
verzichten, zumindest noch nicht. So ziehen wir trotz des unbestreitbaren
Charmes weiter.
Die wunderschönen, aber
unendlich eintönigen Restkilometer nach Hontanas lege ich überwiegend im
Plausch mit Michelle zurück. Nach einer Weile fragen wir uns allerdings, wo das
Dorf bleibt. Normalerweise sieht man, besonders wenn man wie hier bis zum
Horizont blicken kann, Siedlungen schon mehrere Kilometer im Voraus. Doch
soweit das Auge reicht sehen wir nur Felder über Felder; keine Spur von
Hontanas. Irgendwann nähern Michelle und ich uns einer Senke. Von einem Dorf
ist immer noch weit und breit nichts zu erahnen. Plötzlich, wie aus dem nichts,
taucht es auf, und man steht keine zwanzig Meter davor. Völlig irre. Nur wenige
Schritte später stehen wir mitten im Dorf, das bis vor Minuten gar nicht zu
existieren schien.
In der Herberge teilt man uns
mit, dass wir leider mit dem Ersatzquartier Vorlieb nehmen müssten. Heute haben
wir definitiv zu sehr getrödelt. Damit Avril am Ende des Tages nicht leer
ausgeht, reserviere ich gleich ein Stockbett. Ich hoffe inständig, dass sie es
überhaupt bis hierher schafft.
Puh. Das war heute eine harte
Etappe. Meine Schienbeine, Knöchel und Oberschenkel schmerzen. Auch die anderen
scheinen nach dem Duschen das Laufen verlernt zu haben. Etwas unförmig hinken
wir zur anderen Herberge, in deren Erdgeschoss eine Bar betrieben wird. Mit
eiskaltem Bier sitzen wir auf der gegenüberliegenden Straßenseite am grünen
San-Miguel-Tisch und sinnieren über den camino walk. So nennen wir die
ungelenken Gehbewegungen, in die untrainierte Pilger nach harter Etappe und
Ausziehen der Wanderschuhe verfallen — eine Mischung aus Robot-Dance und den Zombie-Zuckungen
aus dem »Thriller«-Video.
Anschließend unterhalten wir
uns über Jörgs interessanten Rucksackinhalt. Wie auch viele andere Pilger hat
er Tonnen unnützer Dinge dabei. Allein sein Kulturbeutel wiegt ungefähr so viel
wie mein kompletter Rucksackinhalt, er hat ein Kilogramm Nüsse —
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