Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
liest ein
dickes Buch und chillt. Ich sterbe hier fast, und die tut so, als würde sie auf
die nächste Vorlesung warten. Vor allem: Woher kommen die beiden, und wie lange
sitzen sie schon hier? Ich jedenfalls habe keinen einzigen Pilger auf der
Schotterpiste gesehen.
Als ich zurück auf den
knochentrockenen, extrem staubigen Pfad wanke, denke ich, meine Beine fallen
gleich ab; die Schmerzen sind unbeschreiblich. Kurz darauf kreuze ich eine
asphaltierte Straße, auf der mit verblasster, gelber Farbe geschrieben steht:
»9 km Bar«. Irgendjemand hat mit roter Farbe eine »7« über die »9« gemalt.
Nett. Noch sieben Kilometer über diesen Alptraum aus Geröll und Staub, na
herrlich.
Am Wegesrand sehe ich Marcos
rasten. Ich möchte ihm etwas zurufen, aber scheinbar arbeitet mein Gehirn nicht
mehr richtig. Ich bekomme keinen Ton heraus. Stattdessen laufe ich wie in
Trance einfach weiter. Langsam mache ich mir dann doch Sorgen. Um einem
Sonnenstich vorzubeugen, schütte ich mir ab jetzt regelmäßig Wasser über den
Kopf. Das hilft mehr als ich gedacht habe, auch wenn ich immer noch — und immer
häufiger — Farbflecken vor meinen Augen flimmern sehe. Lustige, schimmernde
Dreiecke und Trapeze in grellen Farben tanzen vor mir herum. Klare Gedanken zu
fassen fällt mir schwer; es sind eher Gedankenfragmente, die durch meine
Gehirnwindungen huschen. Seb oder meine beste Freundin Carina tauchen auf,
meine Eltern oder Arbeitskollegen. Nebenbei bearbeite ich kurz und knapp die
Frage der Oberflächlichkeit und komme zu folgendem Schluss: Man kann ganz
einfach herausfinden, ob man jemanden wirklich liebt. Man subtrahiere einfach
das Aussehen und überlege sich, ob man dann immer noch mit der Person zusammen
wäre. Worüber man so nachdenkt, wenn man kurz vor dem Hitzetod steht.
Rechts und links des Weges hat
sich nichts verändert, immer noch abgeerntete Felder ohne Ende, es sieht aus
wie in der Wüste. Keine Menschenseele zu sehen, außer Marcos, der mich einholt.
Im monotonen Gleichschritt gehen er und ich nebeneinander her. Wir wechseln
kein einziges Wort, leichte Apathie macht sich bemerkbar. Die letzten Kilometer
haben es dann noch einmal in sich: Wir erklimmen einen Hügel in der Hoffnung,
dass sich dahinter das Etappenziel versteckt. Doch dann taucht ein weiterer
Hügel auf, der genau gleich aussieht. Und noch einer. Wir laufen, laufen,
laufen. Alles tut weh, Steine bohren sich in die Sohlen, ich spüre jedes
verdammte Sandkorn. Verdammt, das macht alles überhaupt keinen Spaß! Irgendwann
weicht die Monotonie dann endlich einem winzigen Etwas auf der rechten Seite
der Strecke. Langsam, ganz langsam wächst ein kleiner Kirchturm aus den
Feldern. Völlig bedient humpeln Marcos und ich nach Calzadilla de la Cueza
hinunter. Die beste Nachricht des Tages: Die Herberge befindet sich gut
sichtbar direkt am Ortseingang. Vor lauter Dankbarkeit möchte ich weinen, aber
dafür bin ich leider zu sehr ausgetrocknet.
Der hospitalero ist der
Knaller: eine brasilianische Mischung aus dem albanischen Fußballstar Fatmir
Vata und dem HB-Männchen. Flucht permanent wie ein Rohrspatz und regt sich über
die ganzen Dreckspilger auf. Ich schließe ihn sofort in mein Herz, er ist nicht
so ein Schleimbeutel wie viele andere, außerdem hilfs- und kompromissbereit,
wenn es drauf ankommt. Beispielsweise, als Marcos und ich einfach die
Waschmaschine benutzen, ohne vorher zu zahlen oder überhaupt zu fragen. Und
einfach in die Bar hundert Meter weiter humpeln, um uns unser wohlverdientes
eiskaltes Bier zu gönnen. Meine Güte, bin ich stolz auf Marcos und mich. Der
Junge hat seit Burgos über hundert Kilometer in drei Tagen zurückgelegt und ist
heute wirklich bedient. Ihm ist ein wenig schlecht, ich nehme an, er hat einen
leichten Sonnenstich erlitten. Wenn ich nicht gerade ich wäre, würde ich mich
selbst beobachten, wie ich einer Schildkröte gleich über den Asphalt krieche.
Marcos und ich laufen den camino walk in ungeahnter Perfektion. Wenn man
wie ich nicht unbedingt bei bester Gesundheit ist und dafür bekannt, sich
permanent nicht zu überwinden, kann man getrost etwas länger über solch einen
Tag nachdenken. Und wenn man Hüfte abwärts komplett taub ist, erst recht. Ich
wollte den Zwang hinter mich lassen, ich habe mir etwas zugetraut, was ich mir
vor zwei Wochen sicherlich nicht zugetraut hätte, ich habe einmal mehr eine
große Angst überwunden. Nach einem solchen Tag fühle ich mich wesentlich
lebendiger und besser als wenn
Weitere Kostenlose Bücher