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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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Glück gehabt,
kann man da nur sagen.
    Endlich taucht Chris auf, und
wir verlassen zu dritt die Herberge. Ingo möchte sich heute etwas Zeit lassen
und bleibt zurück. Noch ist es recht dunkel und kühl, und meine Muskeln tun
sich schwer aufzutauen. Alles, aber auch alles an meinem Körper, was auch nur
im Entferntesten mit Fortbewegung zu tun hat, schmerzt. Ich wusste gar nicht,
dass er an so vielen unterschiedlichen Stellen gleichzeitig schmerzen kann,
aber tatsächlich, es geht. Die ersten Minuten aus Reliegos, das Chris » religious «
getauft hat, sind einfach nur schlimm. Es gelingt mir nicht, einen regelmäßigen
Laufrhythmus aufzubauen, weshalb ich mehr so vor mich hinstolpere. Auf der
schnurgeraden Direktverbindung nach Mansilla de las Mulas werden wir mit einem
traumhaften Sonnenaufgang beglückt. Genießen kann ich ihn allerdings kaum, denn
schon bald schmerzen das rechte Schienbein und das rechte Fußgelenk dermaßen
heftig, dass ich nicht mehr weiterlaufen kann. Wenn ich mit dem rechten Fuß
auftrete, fühlt es sich beinahe so an, als bräche er in zwei Teile durch.
Mitten auf dem Weg lasse ich mich auf den Boden plumpsen und schnalle meinen
Rucksack ab. Auf der gestrigen Römerstraße bin ich ohne Übertreibung zigmal
umgeknickt. Ich befürchte, ich habe mir etwas angeknackst. War’s das jetzt?
    Chris versucht mich mit
homöopathischen Mitteln aufzupäppeln, muntert mich auf und redet mir gut zu.
Viel mehr kann sie für mich leider nicht tun, schließlich kann sie mich ja
nicht auch noch über den Camino tragen.
    Ich schicke Chris und Marcos
fort, die sollen sich jetzt nicht durch mich aufhalten lassen. »Geht schon mal
weiter, ich komme dann nach, wenn ich wieder laufen kann.«
    »Aber nimm die Pillen«, befielt
Chris, »die helfen wirklich.«
    Und schon laufen sie weiter.
Immerhin habe ich jetzt mehr als genügend Zeit, den Sonnenaufgang zu genießen.
Wow. Fast dreihundert Kilometer habe ich bisher zurückgelegt. Morgen wäre
Halbzeit. Wenn ich schon abbrechen muss, möchte ich zumindest die Hälfte
geschafft haben. In León könnte ich zur Not mehrere Tage pausieren, wichtig ist
nur, dass ich die dortige Herberge zu Fuß erreiche. Oder das dortige
Krankenhaus, je nach Zustand. Ich habe mir geschworen, keine Verkehrsmittel zu
benutzen, und daran werde ich mich auch halten. Jetzt packt mich der Ehrgeiz.
Ich raffe mich auf und hinke los. Ach herrje, tut das weh! Zähne zusammenbeißen,
Stöcke einsetzen, Schneckentempo einlegen.
    Nach einer Weile kann ich
halbwegs gut hinken, und so erreiche bald den geschichtsträchtigen Ort Mansilla
de las Mulas. Das Dorf mit etwa zweitausend Einwohnern war schon zu Römerzeiten
ein bedeutender Handelsposten und nahm schließlich im Mittelalter all jene
Pilger auf, die die brutalen Strapazen der Meseta überlebt hatten. Aus der
Römerzeit sind noch Teile der gigantischen Stadtmauer erhalten, die wie
steinerne Wucherungen aus dem Boden wachsen und problemlos das eine oder andere
mehrstöckige Haus überragen. Als ich mich der albergue von Mansilla de
las Mulas nähere, sehe ich schon aus einiger Entfernung, dass etwas nicht
stimmt. Vor dem Eingang der Herberge stehen Beamte der Guardia Civil sowie
einige aufgewühlte Menschen herum. Ich erfahre, dass an diesem Morgen ein
belgischer Pilger auf der Toilette tot aufgefunden wurde. Nach ersten
Erkenntnissen verstarb der leicht übergewichtige Mann an Herzversagen. Obwohl
körperlich nicht fit, soll er versucht haben, mit einigen sportlichen
Mitpilgern Schritt zu halten, und abends trotzdem noch ordentlich gezecht. Ich
stelle mir vor, wie er sich vor der Reise von seiner Familie verabschiedet
haben mag. Papa geht für einen Monat den Jakobsweg. Ja, Papa kommt bald wieder.
Pass gut auf dich auf, Schatz. Natürlich. Alles vorbei. Der Ehemann, der Vater,
der Freund, der Mensch. Tot.
    Auf dem Camino begegnet man so
manchem Kreuz am Wegesrand. Trotzdem scheint der Tod zurzeit überpräsent mir
gegenüber, und da es mir körperlich schlecht geht, verstehe ich es als
deutliche Warnung. Zwar befürchte ich nicht zu sterben, das wäre doch etwas
übertrieben. Wenn ich allerdings so weitermache wie die letzen Tage, ist der
Zwangsabbruch vorprogrammiert. Wie den meisten Pilgern fällt es mir extrem
schwer, auf meinen Körper zu hören und das eigene Lauftempo einzuhalten. Dabei
entstehen die meisten körperlichen Beschwerden durch zu schnelles Gehen. Es
gehört eine gehörige Portion Mut dazu, jemandem zu sagen: »Geh bitte vor,

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