Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
achtzig lang. Etwas größere Zeitgenossen müssen sich also auf
erhebliche Rückenprobleme einstellen. So wie Ingo, der scherzhaft überlegt, die
kommende Nacht im »Parador León« zu verbringen, einem ehemaligen Pilgerhospital
und jetzigen Luxushotel; letztendlich entscheidet er sich aber für ein
günstiges Hostel. Für ihn mit seinen über eins neunzig Körpergröße stellen
spanische Pilgerbetten höhere Hürden dar als jede römische Schotterpiste. Und
als seien die Rückenschmerzen nicht ärgerlich genug, ist ihm sein Rasierer bei
der Hälfte seiner linken Wange verstorben. Nun trägt der Mann einen halben
Pilgerbart und benötigt dringend eine fürsorgliche Rundumbetreuung.
Unsere Herberge wird von lauter
uns bisher unbekannten Gesichtern bevölkert, offensichtlich sind nun die
Dreihundert-Kilometer-Pilger an Bord. Hier eine kleine Zusatzinfo: Wer
achthundert Kilometer pilgern möchte, beginnt in Saint-Jean-Pied-de-Port. Bei siebenhundert
Kilometern entscheidet man sich für Pamplona. Sechshundert Kilometer sind es
von Logroño aus. Ab Burgos fünfhundert Kilometer. Wer sich vierhundert
Kilometer vornimmt, beginnt in Frómista oder Sahagún. León ist die
Dreihundert-Kilometer-Marke. Die Minimalisten unter den Radpilgern beginnen in
Ponferrada (zweihundert Kilometer). Und wer nur schnell einmal übers Wochenende
die Compostela einsammeln möchte, startet in der Hundert-Kilometer-Stadt
Sarria. In jedem der genannten Orte stoßen neue Pilgerinnen und Pilger hinzu,
besonders viele bekanntermaßen in den letzten beiden.
Trotz meiner Schwierigkeiten
heute Morgen habe ich bisher insgesamt über dreihundert Kilometer hinter mich
gebracht. Ein wenig unwirklich scheint mir die Zeit, die ich hier verbringe.
Ich habe noch nicht wirklich verstanden, was ich hier mache — und warum — ,
aber ich bereue zunächst einmal nichts. Meine Füße schmerzen, meine Muskeln
drehen gerade richtig am Rad, aber morgen habe mir schon wieder fast dreißig
Kilometer vorgenommen. Merkwürdigerweise finde ich es völlig in Ordnung, dass
alles schmerzt. Überdies schreibe ich wie ein Wahnsinniger alles auf, was mir
widerfährt, schieße etliche Fotos und versuche nichts zu verpassen. Mit all den
Schmerzen, Widrigkeiten und mir bisher völlig unbekannten Eindrücken ist es
kein Wunder, dass viele Erlebnisse, die einer genaueren Betrachtung bedürfen,
einfach an mir vorbeihuschen. Aber die Einzigartigkeit des Lebens, das ich
gerade lebe, gehört Molekül für Molekül aufgesaugt und mitgenommen. Soweit
möglich, versteht sich.
Fürs Abendessen verlassen
Marcos und ich die teure Altstadt und weichen in die hässliche Umgebung aus.
Rund um die Kathedrale sind die Preise derart sportlich, dass uns auch nichts
anderes übrig bleibt. Nach kurzer Zeit entdecken wir ein nettes Lokal, welches
eigentlich nur mittags speziell vergünstigte Pilgermenüs anbietet. Da Marcos
und ich die einzigen Pilger weit und breit sind, macht der extrem nette Wirt
eine Ausnahme. Für lächerliche neun Euro haut er uns ein unglaubliches Menü um
die Ohren, dass wir unser Glück kaum fassen können. Spanier sind nicht
unbedingt bekannt für gutes Brot. Aber im »La Taurina« kommt nur schmackhaftes,
kerniges Vollkornbrot auf den Tisch, nicht der übliche weiße Schwamm aus der
Maschine. Der vino tinto (deutsch: Rotwein) ist ein Traum, und jeder
Gang übertrifft den vorherigen. Viele Mitpilger berichten von grausigen,
überteuerten, fettigen Pilgermenüs, aber ich kann mich bisher überhaupt nicht
beklagen: Nach Belorado und Frómista erwische ich erneut ein kulinarisches
Highlight. Gut, das Kalbssteak sieht ein wenig aus wie Österreich, aber was
soll’s.
Als wir um etwa halb zehn den
Schlafsaal betreten, liegen einige Pilger bereits in ihren Betten. Der eine
liest, der andere plant die nächste Etappe, manche schlafen auch schon. Und
einer der Schlafenden lässt so richtig das Gaumenzäpfchen flattern. Der Kerl
schnarcht nicht, er sprengt. Es gibt ein Lachen, das sich vom heiterem
Gelächter deutlich unterscheidet: das verzweifelte Lachen. Das Lachen, das
einem herausrutscht, wenn einem überhaupt nicht zum Lachen zumute ist. An
diesem Abend höre ich es häufig, sehr häufig sogar. Der Bettnachbar des
dröhnenden Kerls allerdings genügt sich nicht mit einem verzweifelten Lachen.
Wie ein Shaolin schwingt er sich halb von der Matratze herunter und verpasst
dem Nachbarbett einen saftigen Tritt. Das Metallgestell scheppert beängstigend,
der Saal entdeckt das
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