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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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hat
andere Vorstellungen über Glauben, Leben, Moral. Aber was uns verbindet ist die
Akzeptanz des Anderen, die Bereitschaft auch mit konträren Ansichten
klarzukommen, sie sogar anzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. An
Chris schätze ich ihre forsche Art, ihren Pragmatismus, ihre Fassung. Sie ist
wesentlich jünger als ich, und trotzdem fest im Sattel. Vielleicht fliegt sie
mit dreißig vom Pferd, aber höchstwahrscheinlich nur, um auf einem anderen zu
landen. Im Gegensatz zu ihr spricht Marcos nicht direkt aus, was er denkt,
sondern nur, worüber er ausführlich nachgedacht hat. Marcos ist ruhig, sehr
nachdenklich, extrem höflich und charmant. Was für eine Mischung wir abgeben,
unglaublich. Je genauer ich uns beobachte, desto sicherer bin ich mir, dass wir
unser Ziel gemeinsam erreichen werden. Wir greifen wie Zahnräder ineinander,
weshalb wir uns trotz unserer unterschiedlich ausgeformten Charaktere bisher
nicht ein einziges Mal gestritten haben. Ganz im Gegenteil, wir achten
aufeinander, ohne groß darüber nachzudenken oder uns abgesprochen zu haben.
Immerhin eine Gemeinsamkeit können wir dann doch noch vorweisen: den Humor. Wir
veranstalten hier nicht den Riesenradau und prügeln uns alle fünf Minuten die
Schenkel wund. Aber der Humor hält uns auf Trab, lässt uns trübe Momente
überwinden und sorgt bei Bedarf für seelische Befreiungsschläge.
    Nebeneinander liegen wir in
unseren Betten, schlürfen Dosenbier, sehen abwechselnd uns und unsere Wäsche
an, die auf meiner quer durchs Zimmer gespannten Packschnur hängt. An diesem
Abend lernen wir uns kennen, irgendwo in Nordspanien in einem grauen Ort mit
goldenem Namen, reden und reden, bis uns vor Müdigkeit die Augen zufallen.
Glück gehabt.
     
    Etappe 19: Ferreiros — Palas de
Rei (34,5 km)

Freitag, 18.
September 2009
     
    Die gemütlichen Betten
verleiten uns dazu, etwas länger liegen zu bleiben als gewohnt. Außerdem hat
uns Marcos gestern Nachmittag drei Betten in einer Privatherberge in unserem
heutigen Etappenziel Arzúa reserviert; die Telefonnummern stehen alle im
Wanderführer. Es ist herrlich, mal nicht von raschelnden und quasselnden
Pilgern geweckt zu werden, und so nutzen wir die ungewohnte Ruhe zur
Regeneration. Gegen halb acht stehen wir endlich auf und beginnen unsere Wäsche
einzusammeln. Mein Schalke-Trikot ist immer noch klatschnass, so dass ich es
zum Trocknen an den Rucksack hänge und das ultraleichte Freizeitshirt von Arc’teryx
trage. Nach dem Aufstehen trödeln wir dermaßen rum, dass wir erst
fünfundvierzig Minuten später loslaufen.
    Auch heute sind wir permanent
von Sarria-Pilgern umgeben. Nicht nur mir fällt auf, dass man sie sowohl an
ihrer Ausrüstung als auch an ihrem Gang erkennt. Leute, die lediglich hundert
Kilometer vor sich haben, laufen ganz anders als jene, die sich das Fünf- bis
Zehnfache vornehmen. Für einige Zeit folgen wir einem Sarria-Pärchen, das sich
zwei gleiche Rucksäcke gekauft hat, allerdings in unterschiedlichen Farben: er
Blau, sie Rot. An ihrem hängt ein Flaschenkürbis, wie ihn die Pilger vor
vierhundertachtunddreißig Jahren getragen haben. Jeder der beiden hat
mindestens das Dreifache meiner Gepäckmenge dabei. Ein herrlich absurdes Bild,
das die beiden abgeben, aber wenigstens wandern sie einfach und veranstalten
nicht irgendeinen unwürdigen Scheiß.
    Den gesamten Morgen über lässt
sich kein einziger Sonnenstrahl blicken. Obwohl es mir eigentlich prima geht,
zieht die graue Pampe um uns herum meine Laune in den Keller. Von der häufig
besungenen Euphorie auf den letzten Kilometern vor Santiago deCompostela
merke ich nichts, stattdessen macht sich so etwas wie Skepsis in mir breit.
Ehrlich gesagt haben sich meine Erwartungen nur teilweise erfüllt. Ich habe
viel von magischen Momenten und mysteriösen Vorkommnissen gelesen, von
unerklärlichen Phänomenen, die sich ereignet haben sollen. Bisher allerdings
ist mein Camino weder magisch noch mysteriös. Klar, die Landschaften sind
wunderschön, Chris und Marcos fantastische Mitpilger, und ich habe eine Menge
über mich selbst gelernt. Aber mir fehlt etwas; ich weiß nur nicht genau was.
Ich habe das Gefühl, dass mich der Camino bezüglich besonderer Momente hinhält,
und zeitlich gesehen wird es langsam echt knapp. Innerlich rechne ich bereits
mit einer herben Enttäuschung. Wir sind fast da, und alles, was mich umgibt,
sind Nebel und Touristen.
    Vermehrt tauchen am Wegesrand
Werbetafeln und Telefonnummern von

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