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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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ihn und seine acht Brüder großzuziehen, zumal der
alkoholkranke Vater sie regelmäßig verprügelt habe. Oder dass er psychisch
leicht gestört sei. Allein, dass wir Pilger sind, reicht ihm scheinbar, um uns
die persönlichsten Dinge anzuvertrauen. Vielleicht wünscht er sich, dass wir
einen winzigen Teil seines Lebens nach Santiago tragen; dass er uns so einen
flüchtigen Hauch lang begleiten kann. Als wir uns verabschieden, fragt er uns
nach unserer Herkunft. Als Chris und ich erzählen, dass wir aus Deutschland
kämen, überrascht er uns mit einem fröhlichen »Auf Wiedersehen!«
     
    Weiter geht es aus der Stadt
heraus durch Wälder und Felder, an eingestürzten Häusern und streng riechenden
Kuhställen vorbei. Als ich kurz vor dem Dörfchen Boente auf die Nationalstraße
N-547 trete, sehe ich vor der Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite
einen Mann wild herumgestikulieren. Ich werde natürlich sofort neugierig — und
überrascht: Da steht doch tatsächlich der Pfarrer höchstpersönlich an der
Straße und ruft alle Pilger zu sich wie ein waschechter Marktschreier.
    »Ihr seid doch Pilger!«, ruft
er auf Spanisch. »Hey, Pilger! Das ist eine Kirche!«
    Der Mann versteht sein
Handwerk. Ich überquere die Nationalstraße und betrete das Gotteshaus. Leider
ist es nicht ganz so toll wie der Pfarrer und atmosphärisch nicht besonders
sympathisch ganz anders beispielsweise als die kleine Dorfkirche in Villadangos
del Páramo. Kein Bau kann halten, was ein Mensch in der Lage ist zu
versprechen. Ich drücke den neuen und den alten Stempel der Kirche in meinen
Pilgerpass — zur Erinnerung an den Pfarrer mit Fischmarkt-Potenzial — und
verschwinde. Die letzten neun Kilometer der heutigen Etappe ziehen sich mal
wieder unendlich zäh dahin, und ich werde langsam wieder knatschig. Der
wolkenverhangene Himmel motiviert mich dabei ebenso wenig wie die immer stärker
werdenden Schienbeinschmerzen. So heftig wie ich Voltarén konsumiere, müsste
der Unterschenkel eh bald abfallen. Galicien scheint sich der allgemeinen
Pilgermode anzupassen und präsentiert sich zunehmend in gedeckten Grau-, Grün-
und Brauntönen. Eigentlich wollte ich heute etwas langsamer laufen. Aber ich
möchte mir das Ganze nicht länger antun als nötig, also laufe ich deutlich über
meinem Rhythmus. Wenn sich das mal nicht rächt. Bevor wir uns in unsere
reservierten Betten legen können, müssen wir uns noch einen Hügel
hochschleppen, auf dem Arzúa vor etlichen Jahrhunderten erbaut wurde. Wieso,
verstehen wir nicht; erst recht nicht, als wir die Sechstausend-Seelen-Gemeinde
erreichen. Etwas dermaßen Hässliches haben wir am gesamten Jakobsweg noch nicht
gesehen. So etwas baut man wenn überhaupt irgendwo in ein dunkles Tal, nicht
auf einen gut sichtbaren Hügel. Es ist einfach unbegreiflich, wie zivilisierte
Menschen eine derart atemberaubende Landschaft so unglaublich rücksichtslos und
ohne jeden Ansatz ästhetischer Sensibilität verschandeln können. Aber sie
können: ¡Bienvenidos a Arzúa!
    Unterwegs zu unserer Herberge
»Via Láctea« (deutsch: Milchstraße) müssen wir bezeichnenderweise die Calle de
los Dolores, die Straße der Schmerzen, passieren. Leider handelt es sich bei
der Milchstraße um eine Molkerei, die sich auf Pilger spezialisiert hat: Satte
zehn Euro kostet die Übernachtung pro Kopf. Im krassen Missverhältnis zum
Eintrittspreis kommt aus der Dusche nur kaltes Wasser. Chris schimpft wie ein
Rohrspatz, und das völlig zu Recht. Schließlich ist der Bedarf an kaltem Wasser
über den Tag verteilt mehr als gedeckt worden. Meine Verachtung Arzúa gegenüber
wächst minütlich. Und während der Großteil meiner Wäsche von einer
Waschmaschine durchgewalkt wird, sitze ich hier mit meinem immer noch nassen
Schalke-Trikot in der schwächelnden Sonne und trockne mich selbst. Spanien kann
ganz schön kalt sein.
     
    Kurz vor achtzehn Uhr beginnt
eine Pilgerin zu kochen. Durch das offene Fenster zieht ein unglaublich Appetit
anregender Duft in den Innenhof und macht mich völlig fertig. Wenn ich
weiterhin ohne Essbares bleibe, könnte etwas Schreckliches geschehen. Also
dränge ich Chris und Marcos aus der Herberge. Zu dritt besichtigen wir die
zentral gelegene Iglesia de Santiago, anschließend erkunden wir die Stadt. Wo
wir auch hingehen, Arzúa ist und bleibt hässlich. Nach einer Weile finden wir
einen Supermarkt und treten ein. Einige Minuten rennen wir die Regalreihen rauf
und runter, ohne irgendetwas aus ihnen

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