Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
machen?
Etappe 18: Triacastela —
Ferreiros (31,7 km)
Donnerstag,
17. September 2009
Um Punkt sechs Uhr springen die
meisten Pilger aus ihren Betten und rasen in die Nacht davon, immer auf der
Jagd nach dem freien Bett. Man merkt überdeutlich, dass wir auf den letzen
hundert Kilometern sind. Bei dem Tempo gepaart mit den steinigen Wegen würde es
mich wundern, sie heute Abend ausnahmslos unverletzt wiederzusehen. Schon vor
Reiseantritt war mir klar, dass ich mich aus mehreren Gründen nicht an den
Wettrennen um die letzten Schlafplätze beteiligen werde. Erstens widerspricht
es meiner Natur, mir von Hobbywallfahrern meine Tagesplanung diktieren zu
lassen. Zweitens hängt es von der Tagesform und der aktuellen Stimmungslage ab,
wann ich aufstehen und wandern möchte. Drittens habe ich in den letzten Monaten
ein finanzielles Polster angespart, um mir theoretisch zwei Wochen lang jede
Nacht ein Hotel leisten zu können. Wenn nötig, würde ich Chris und Marcos
einladen; als Studenten haben die beiden logischerweise nicht den finanziellen
Spielraum, der sich mir bietet.
Etwa eine Stunde später, es
sind nur noch vier Pilger anwesend, machen Marcos und ich uns auf Richtung
Restaurant. Als wir die Herberge verlassen, fährt ein Taxi vor. Vier Spanier
laden ihre Rucksäcke ein und marschieren heute ohne Gepäck los. Da ihre Schuhe
nagelneu aussehen, vermuten wir mal, dass es sich um Sarria-Pilger handelt. Es
gibt viele, die auch auf den letzten hundert Kilometern ungeniert per Taxi
reisen. Dass man die Herbergen nicht mit dem Auto erreichen und deshalb nicht
bescheißen könne, ist schlichtweg völliger Unsinn. Entsprechende Gerüchte
halten sich aus unerklärlichen Gründen hartnäckig. Die Wahrheit ist, dass
praktisch jede Herberge mit dem Auto erreicht werden kann, zusätzlich liegen
Stempel in beinahe jeder Kirchen und jeder Kneipe aus. Und wo gepilgert wird,
wandern Späne.
Den ganzen Morgen über ist es
nebelig und feucht, und seit wir Galicien betreten haben sind die Wege häufig
mit Kuhdung vollgeschissen. Wäre kein Problem, wenn der Regen den Scheißeteppich
nicht so rutschig werden lassen würde. Meistens schweigen Chris, Marcos und
ich. Das Wetter schlägt uns doch mehr aufs Gemüt als uns lieb ist. Und dann die
Sarria-Pilger. Ich hatte mir so fest vorgenommen, tolerant zu sein und auf
jeden Menschen offen zuzugehen, aber wenn ich ehrlich bin, war das reines
Wunschdenken. Diese Wochenendpilger kostet mich den allerletzten Nerv. Obwohl
mir bewusst ist, dass im Prinzip jeder so pilgern darf wie er möchte, könnte
ich dem einen oder anderen von ihnen eine reinzimmern. Natürlich bin ich
Pazifist, ich würde keiner Fliege etwas zuleide tun, aber wenn das eine
Wunschdenken verpufft, muss Ersatz her. Beispielsweise die vier Taxipilger von
vorhin. Die wandern gar nicht, die spazieren. Sie trippeln kreuz und quer über
den Camino, bleiben stehen, versperren uns auf vollständiger Breite den Weg,
laufen beim Fotografieren rückwärts und rempeln uns an, sie achten null auf die
anderen Pilger und benehmen sich wie Dreijährige in der Fußgängerzone. Mit
anderen Worten: Wir sind ihnen einfach scheißegal.
Da wir nicht wollen, dass diese
Pappnasen ewig wie Motten um uns herumschwirren, legen wir einen Zahn zu und
sparen uns die Pausen. Keine schlechte Taktik. Bald laufen wir zu dritt durch
Wälder und Weiler, die Luft schmeckt feucht und widerspenstig, langsam aber
sicher macht sich meine Wetterfühligkeit bemerkbar. Kaum ist der Himmel grau,
verspüre ich einen steigenden Druck in deinem Kopf, und plötzlich gehen mir die
flüchtigsten Kleinigkeiten auf den Geist. Noch kann ich mich allerdings unter
Kontrolle halten, was hauptsächlich daran liegt, dass wir heute mal gemeinsam
laufen und uns über die Sarria-Pilger auslassen. Ich beginne, sie aufgrund
ihrer winzigen Rucksäcke für Tagestouren »Daypack-Pilger« zu nennen, obwohl ich
als Sechshundert-Kilometer-Pilger einen ähnlich mickrigen Rucksack benutze.
Chris dagegen schießt sich so langsam auf die Fahrradpilger ein, deren Anzahl
sich seit Ponferrada mindestens verdreifacht hat. Marcos schämt sich für seine
lauten Landsleute, aber hey, was sollen Chris und ich da sagen? Besonders
Chris, die sich als Einzige von uns ihre Nationalität mit dem Denker teilt.
Nach neun Kilometern überqueren
wir über eine seelenlose Betonbrücke den Stausee von Portomarín, der uns mit
einem extrem niedrigen Pegelstand empfängt. Unten am Seeufer sieht man noch
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