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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clough Patricia
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sonderlich ehrgeizig oder eifersüchtig. ›Und, was meint ihr‹, fragte ich die Bässe, ›wollen wir Herrn Hirsch fragen, ob er es mal versucht? Die Erfahrung wäre gut für ihn.‹
    Herr Hirsch sah unsicher in die Runde.
    â€ºTrauen Sie sich‹, ermutigte ich ihn. ›Es ist eine tolle Herausforderung, ich glaube, Sie werden Ihre Sache gut machen. Ich werde mit Ihnen arbeiten.‹
    Alle redeten auf ihn ein, bis er lächelnd und schulterzuckend sein Einverständnis gab.
    Wir hatten zwei Wochen. Mir war klar, dass ich in dieser Zeit keinen Profi aus ihm machen würde. Aber ich zweifelte nicht, dass er es gut hinbekommen würde. Wir einigten uns darauf, dass er drei Mal die Woche am frühen Abend zu mir in die Wohnung kommen sollte, um zu üben.
    Wie kann es sein, dass uns die Stimme des einen Mannes so rühren, dass sie uns im Innersten ergreifen und elektrifizieren kann, bis wir förmlich dahinschmelzen, während uns der nächste, egal, wie gut er singt, vollkommen kalt lässt? Worin liegt der Zauber? In der Art, wie er die Noten hält?«, fragte Charlotte träumerisch. »Ich war verzaubert von dieser tiefen, satten Stimme, die samtig-weich und kalt wie Stahl sein konnte. Aber da war noch mehr. Seine hellbraunen Augen, die Zurückhaltung … Ich zitterte regelrecht, wenn ich am Klavier saß. Als er nach unserer zweiten Einzelprobe aus der Wohnung war, ließ ich mich erst einmal erschöpft in den Sessel fallen. War es diese Stimme, oder war es der Mann? Oder beides? Ich wusste es nicht, aber plötzlich begriff ich, dass ich mich hoffnungslos in ihn verliebt hatte.
    Zunächst war ich todunglücklich. Er sprach zwar nie über sich selbst, aber ich hatte gehört, dass er eine Frau hatte und einen Sohn im Teenager-Alter. Es war ohnehin hoffnungslos. Wieso sollte er sich für mich interessieren? Ich war fast siebzig. Auch wenn ich manchmal als Sechzigjährige durchging, sah man doch, dass ich wesentlich älter war als er. Da war überhaupt nichts zu machen. Ich musste mich zusammenreißen, niemand, am wenigsten mein Sänger, durfte jemals von meinen Gefühlen erfahren.
    Glücklicherweise konnte ich mich hinter meiner Rolle als Lehrerin verstecken. Ich konzentrierte mich darauf, seinen Atem zu korrigieren, ich half ihm, die Phrasierung zu verbessern und brachte ihm die verschiedenen Techniken bei, die Händels Musik verlangten. Ich war streng und forderte viel von ihm, während mir das Herz bis zum Hals klopfte. Kann sein, dass er gelegentlich die besondere Intensität in meinem Blick bemerkte. Ich hoffte, dass er sie meiner Leidenschaft für die Musik zuschrieb. Wir verstanden uns sehr gut, doch unser Verhältnis war zudem von einer Harmonie, einem Einverständnis bestimmt, das mit einer normalen Lehrer-Schüler-Beziehung wenig zu tun hatte. Doch dabei ging es immer nur um Gesang. Wir trauten uns beide nicht, über etwas anderes zu sprechen. Wenn ich nach dem Unterricht wieder allein war, schwebte ich auf Wolke Sieben. Es war, als würde ich fliegen, immer der Sonne entgegen. Mein Herz war so weit, ich liebte die ganze Welt. Was für ein Kitsch!, sagte ich mir. Und doch: Jedes Liebeslied, das ich jemals gehört hatte, schien mir auf zauberhafte Weise wahr geworden.
    Vier, fünf Tage vor dem Konzert stand er zur verabredeten Zeit in meiner Tür. Aber er nahm den Mantel nicht ab. Stattdessen reichte er mir seine Noten. Er wirkte erschöpft, sein Gesicht war aschgrau. ›Es tut mir so leid, so furchtbar leid. Ich kann es einfach nicht. Es geht nicht. Ich weiß, dass es ein großes Problem für Sie sein wird, aber ich habe keine Wahl.‹
    Ich war fassungslos. ›Was ist denn auf einmal los?‹, fragte ich. ›Sind es die Nerven? Haben Sie Angst? Ich habe Ihnen doch beigebracht, damit umzugehen …‹ Ich war nicht nur schockiert, ich war ihm richtiggehend böse. ›Das darf nicht wahr sein! Das können Sie mir nicht antun! Sie können den Chor nicht so im Stich lassen!‹
    Sein Gesicht war jetzt nicht mehr aschgrau, sondern kreideweiß. Er wandte sich zum Gehen. ›Ich weiß‹, sagte er, ›aber es geht leider nicht. Es ist mein Problem. Ich kann nicht weitermachen.‹
    â€ºZumindest schulden Sie mir eine Erklärung‹, rief ich. Ich konnte kaum an mich halten. Doch dann merkte ich, dass ich so nichts aus ihm herausbekommen würde.

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