Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
Lebensdrittel nicht notwendigerweise bedeuten muss, dass man langsam von der Bildfläche verschwindet, dass man in den Hintergrund treten muss oder jeden Tag einen ruhigen Sonntag sein lässt, wie Patrick M. Liedtke es ausgedrückt hat. Die Psychologen Mary und Kenneth J. Gergen haben es sehr treffend formuliert: Das Alter kann »eine Phase der Bereicherung und des unvergleichlichen Wachstums sein«.
Wenn die Kinder aus dem Haus sind, wenn es mit dem ersten Beruf vorbei ist, wenn man gesund ist und davon ausgeht, noch einige gute Jahre vor sich zu haben, ist es höchste Zeit, die alten Vorurteile gegenüber älteren Frauen, die alten Barrieren â besonders die des fünfundsechzigsten Geburtstags â zu durchbrechen und den Rest des Lebens anzupacken, das Beste daraus zu machen. Egal, wie man es anstellt und ob man bereit ist, Risiken einzugehen: Wenn nicht jetzt, wann denn? Wer verstanden hat, dass das Ende näher ist als noch am Tag zuvor, hat noch lange keinen Grund zu resignieren oder in Trauer zu verfallen, es ist ein Grund, nach Herausforderungen zu suchen und das Leben in seiner ganzen Fülle zu genieÃen.
In den Fünfzigerjahren gab es einen sehr erfolgreichen Film mit dem Titel »Carmen Jones«, der die Handlung der Oper »Carmen« in eine Fallschirmfabrik in North Carolina mit afroamerikanischen Arbeiterinnen verlegt. Der Film wirkt heute sehr altmodisch, aber er ist in gewisser Weise ein Klassiker. Eine Arie ist wirklich unvergesslich. Als Carmen die Pik-Neun zieht und glaubt, dass sie bald sterben muss, singt sie:
Es bringt nichts davon zu laufen, alter Junge â¦
Ich nutze jede Sekunde, die ich habe,
bevor er mich zu Boden wirft.
Ich lache und singe,
bis ich auÃer Atem bin.
Bevor er mir mit der Sense kommt,
solange ich noch fliegen kann,
hält mich nichts am Boden.
Ich werde das Leben genieÃen,
bis mir das letzte Stündchen schlägt.
Für Carmen Jones bedeutet »Leben«, dass sie ihren armen, unglücklichen Liebhaber José verlässt, um sich von einem reichen Boxchampion verwöhnen zu lassen. Aber es geht, wie wir gesehen haben, ja auch anders â¦
»Ich sehe und höre nicht mehr so gut, aber meinem Gehirn geht es gut. Ich glaube, dass meine geistigen Fähigkeiten heute, aufgrund der vielen Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, weiter entwickelt sind als früher.«
Rita Levi-Montalcini, Neurologin und Nobelpreisträgerin zu ihrem hundertsten Geburtstag.
»Ich denke, ich habe gelebt.«
Bärbel Bohley
»Gerade die älteren Frauen hatten immer schon die Funktion, die gesammelte Weisheit einer Gemeinschaft zu erhalten und weiterzureichen, ich glaube, dass ältere Frauen sich auf diese Rolle besinnen sollten.«
Maggie Guillebaud
QUELLEN
Eileen Atkins, Fernsehinterview in Friday Night with Jonathan Ross , BBC One, 15. Juni 2008.
Simone de Beauvoir, Das Alter (La Vieillesse). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000.
Nils Beckman et al., Secular Trends in Self-reported Sexual Activity and Satisfaction in Swedish 70-year-olds , British Medical Journal, University of Gothenburg, July 2008.
Erfahrung rechnet sich , Broschüre vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2008.
Colin Farrell, Fernsehinterview in Friday Night with Jonathan Ross , BBC One, 10. Oktober 2008.
Kenneth Gergen, Realities and Relationships Soundings in Social Construction , Harvard University Press 1997.
Rabbiner Hillel der Ãltere, Pirqe Avot: Sprüche der Väter. Eine heilige judäische Schrift . Jüdische Verl.-Anst., Berlin 2001.
Patrick M. Liedtke, From Bismarckâs Pension Trap to the New Silver Workers of Tomorrow: Reflections on the German Pension Problem . European Papers on the New Welfare, 12. February 2006.
Andrew Osborne, David Blanchflower, International Happiness Paper for the National Bureau of Economic Research, Cambridge, Mass. USA, January 2011.
Barbara Strauch, The Secret Life of the Grown-Up Brain , Viking Penguin, USA 2010.
Dr. Susan E. Trompeter et al., Sexual Activity and Satisfaction in Healthy Community-dwelling Older Women , American Journal of Medicine, University of Diego, January 2012.
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