Vom Wahn zur Tat
zu unterscheiden. Es lohnt sich, etwas näher darauf einzugehen, da diese Symptome bereits erste Einblicke in die Erlebniswelt dieser Kranken bieten. Von Wahnwahrnehmungen spricht man, wenn der Kranke die Welt zwar so wahrnimmt wie vor dem Ausbruch der Erkrankung, das Wahrgenommene jedoch abnorm interpretiert und auf sich bezogen wird. Ein Beispiel dafür wäre ein Patient, der einen roten Strich auf einem Blatt Papier als Botschaft versteht, dass er am selben Tag noch umgebracht werden soll. Weitere häufig auftretende Symptome ersten Ranges sind spezielle Formen von akustischen Halluzinationen, Stimmen etwa, die das Verhalten des Kranken kommentieren, oder mehrere nicht anwesende Personen, die über den Betroffenen sprechen. Andere Erstrangsymptome beruhen auf der psychotischen Durchlässigkeit der Ich-Grenzen. Gedanken sind dann nicht mehr die eigenen Gedanken, sondern werden von jemandem eingegeben oder manipuliert, sie können umgekehrt aus dem Kopf entfernt werden, können für andere hörbar werden oder sich ausbreiten – allesamt Erlebnisse, die einen äußerst beunruhigenden Charakter für den Betroffenen haben. In den heute weltweit verwendeten, international etablierten Diagnosesystemen der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) und der American Psychiatric Association (DSM-IV) stellt der Schizophreniebegriff weitgehend ein Amalgam der oben beschriebenen Konzepte dar. Sowohl Emil Kraepelins Hinweise auf die Bedeutung des Verlaufs als auch die Grundsymptome Eugen Bleulers und die Erstrangsymptome Kurt Schneiders wurden dabei berücksichtigt. Schizophrenie oder, um mit Bleuler zu sprechen, die Gruppe der Schizophrenien ist im heutigen Verständnis nach ihren charakteristischen Symptomen zunächst als Psychose definiert. Als solche äußert sie sich in Veränderungen der inneren und äußeren Wahrnehmung, der Kognitionen und der Emotionalität und häufig auch in Veränderungen des Ausdrucks und des Verhaltens, in nahezu allen Fällen ist das Denken gestört. Subjektiv erlebt der Betroffene, dass die Gedanken abreißen, dass sich ein Gedanke über den anderen schiebt (Gedankengleiten), dass sich das Denken der eigenen Kontrolle entzieht. Als sogenannte Positivsymptomatik werden Phänomene bezeichnet, die beim Gesunden nicht vorhanden sind. Zentral sind hier Wahn und Halluzinationen zu nennen. Als herausragende Eigenschaften bezeichnete der Psychopathologe und spätere Philosoph Karl Jaspers die unvergleichliche subjektive Gewissheit, die Unkorrigierbarkeit und die Unmöglichkeit des Inhalts der Schilderungen seiner Kranken. In den Wahnerzählungen der Patienten können verschiedene Themen auftauchen. Im Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn fühlt sich der Kranke bedroht. Charakteristisch ist, dass sich alles auf ihn bezieht, die Welt ist für ihn wie eine Kulisse, hat einen fremdartigen Charakter angenommen. Die vermeintlichen Verfolger können sowohl reale Personen als auch übernatürliche Mächte, Teufel und Dämonen sein. Nicht nur die umgebende Welt kann als verändert wahrgenommen werden, auch die eigene Person kann einem Wandlungsprozess unterzogen sein. Beim Größenwahn schreibt sich der Kranke übernatürlich große Fähigkeiten und Eigenschaften zu oder kann eine neue wahnhafte Identität – häufig religiöser Natur – annehmen. So erinnere ich mich noch gut an eine Psychotherapiegruppe, die ich vor achtzehn Jahren gehalten habe. Damals meinten drei Männer, Jesus Christus zu sein, und gerieten in Streit, da sie die jeweils anderen für Ketzer oder den Antichristen hielten.
Die an sich selbst wahrgenommene Veränderung kann jedoch auch negativer Natur sein, der Körper kann als unheilbar krank wahrgenommen werden, meistens durch Einwirkung von außen. Hier spricht man von einem hypochondrischen Wahn. Oder es gewinnen reale und vermeintliche Handlungen in der Vergangenheit einen übermächtig schuldhaften Charakter. Manchmal allerdings macht sich der Betroffene schon durch seine bloße Existenz schuldig. Wie bereits angedeutet, spielen auch Wahrnehmungsveränderungen eine große Rolle in der schizophrenen Psychose. Halluzinationen können in allen Sinnesgebieten auftreten. Akustische Halluzinationen, das sogenannte Stimmenhören, kommen allerdings am häufigsten vor. Von coenästhetischen Halluzinationen spricht man, wenn die inneren Organe als verändert wahrgenommen werden. Eine Patientin berichtete etwa, dass ihr jeden Tag in der Nacht Herz und Gedärme entzweigerissen werden und sich am
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