Vom Zauber der Rauhnächte - Weissagungen, Rituale und Bräuche für die Zeit zwischen den Jahren
den Ställen. Rührt sie ja nicht an!« Er band die beiden Jungtiere ans Gatter. Dann ging er ins Haus und packte flugs ein Bündel zusammen. Er verabschiedete sich von seinem Bruder und zog fort.
Mühsam bahnte er sich seinen Weg durch den tiefen Schnee, er ging am Grabe der Eltern vorbei und sprach dort ein kurzes Gebet, und bald schon verschwand er in dem dichten weißen Wirbeln. Die beiden Tiere folgten ihm willig am Seil. Mit großer Mühe erreichten sie den Wald. Längst war der Tag zu Ende gegangen, fast unmerklich war es dunkel geworden, inzwischen war es tiefe Nacht – die Heilige Nacht. Das dichte Schneetreiben hatte nachgelassen und der Kleine dachte jetzt nicht an den ungerechten Bruder, sondern genoss die feierliche Stille. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören.
Oder halt – da war doch etwas? Ein ganz feines, fast lautloses Klingen, ein zartes silberhelles Singen tönte da durch den weihnachtlichen Wald. Da entdeckte er einen großen Pferdeschlitten mit einer weißen Plane bespannt. Und um ihn herum schwebten viele kleine Lichtlein, die machten den silberhellen Klang – es mussten Elfen sein!
Als er auf den Schlitten zutrat, hörte er Stimmen: »Oh weh, wie sollen wir’s machen?!« – »Ja, wie kriegen wir’s nur hin?!«
»Kann ich helfen?« Der Kleine schaute unter die Plane. Der Schlitten war voll mit Paketen und Päckchen, Säcklein und Tüten. Und
dazwischen hockten zwei winzig kleine, graue Männlein mit langen, weißen Bärten. Oh, sie erschraken sehr, als sie den Menschen sahen. Aber der Schreck legte sich schnell, schließlich war er kaum größer als sie selbst. Und sie hatten doch ganz andere Sorgen! »All die Pakete müssen wir noch abliefern. Es sind die Geschenke für die guten Kinder in der Stadt – aber sie sind uns völlig durcheinandergeraten!« »Aber die Geschenke tragen doch alle eine Nummer und einen Namen!«, sagte der Kleine. »Ja, doch wir haben unsere Brillen nicht dabei und – ja, und wir Zwerge können auch nicht so gut lesen. Und jetzt kommen die Geschenke nicht an, oh je! Aber das Christkind und Knecht Ruprecht verlassen sich doch fest auf uns!« – »Keine Sorge, lasst mich nur machen«, meinte der Kleine.
Die Schäflein rollten sich hinter dem Kutschbock zusammen und der Kleine nahm die ersten Päckchen. Er wusste sofort, wie sie zu sortieren waren, und los ging’s: Das weiße Pferd sauste mit dem Schlitten davon über verschneite Wege und Wiesen – schneller als der Wind, schneller als die Zeit! Im Nu waren alle Geschenke richtig verteilt und kein einziges war übrig geblieben. Alle Kinder im Land hatten pünktlich die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum liegen.
Wie nun die Arbeit getan war, da bedankten sich die Zwerge ganz herzlich. »Gern will ich euch jedes Jahr helfen, wenn ihr mich brauchen könnt«, versicherte der Kleine. »Aber wo wohnst du, wie finden wir dich?« – »Ich habe kein Zuhause mehr.« – »So komm doch mit zu uns«, boten die Zwerge an. »Schließlich bist du nicht viel größer als wir, und dem Zwergenkönig wird es bestimmt recht sein.«
Das Zauberpferd trabte an und flog bald wieder so schnell dahin, dass der Sturmwind um die Ohren pfiff und niemand mehr den Weg erkennen konnte oder gar das Ziel, zu dem es lief. Kaum waren sie ein paar Herzschläge geflogen, da blieb das Pferd stehen – vor dem Gläsernen Berg am Ende der Welt.
Die beiden Zwerge aber auf dem Kutschbock sprachen im Chor einen Zauberspruch. Da schob sich mit leisem Grummeln der schwarzglänzende Felsen zur Seite und gab ein gewaltiges Höhlentor frei. Sogleich zog der Schimmel den Schlitten in die Höhle hinein und der Felsen glitt wieder zurück an seine alte Stelle und schloss das Tor.
Auf der anderen Seite des Höhlentores erstreckte sich ein weites fruchtbares Tal mit saftig grünen Wiesen und leuchtend gelben Kornfeldern. Ein klares Bächlein plätscherte vielfach gewunden hindurch und verschwand im Hintergrund. An den sanften Talhängen standen in buntem Durcheinander zahlreiche hölzerne Hüttchen mit roten Dächern, kleinen Gärten und vielen bunten Blumen. Freundlich winkten die vielen kleinen Männlein und Weiblein und die noch kleineren Zwergenkindlein. Alle begrüßten den Neuankömmling und der Zwergenkönig hieß ihn herzlich willkommen in seinem Reich.
Der Kleine begann sein neues Leben bei den Zwergen. Überall machte er sich nützlich mit seiner Klugheit und seinem Wissen. Er gründete eine Zwergenschule und unterrichtete
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