Von allen guten Geistern geküsst: Roman (German Edition)
WOVON SPRICHT ER ?
»Nichts, Mom, nichts«, antwortete Mab und sah ihrem Bruder hinterher, der ihre Mutter in einer Holzschüssel davontrug.
Dann öffnete sie ihre Arbeitstasche, nahm den zerbrochenen Urnendeckel heraus und begann, die Gefängniszelle für den Vater ihrer Tochter zu reparieren.
Später an diesem Abend folgte Ethan Gus, der den Wartungssteig der Drachenbahn entlangging, mit einer Sicherungsleine am Außengeländer eingehakt. Ungefähr alle fünf Meter klopfte er mit einem Holzhammer gegen die Schienen, um zu prüfen, ob die Teile in Ordnung waren, wobei er sich dicht über die Spur beugte. Trotz seines Alters und seiner Arthritis gelang es Gus noch aus eigener Kraft, sich auch die steilste Neigung der Bahn hinaufzuziehen.
Als sie ganz oben angekommen waren, blickten sie über den Park hinweg. Über den Fluss zogen tiefe Nebelschwaden, und die Bäume hatten all ihr Laub verloren und ließen die Landschaft öde erscheinen. Über dem Land hingen graue Wolken, und eine steife Brise verstärkte die Kälte. Das Blinklicht oben auf dem Teufelsflug befand sich noch etwas höher und blitzte in der frühen Dämmerung. Ethan lief ein Schauer über den Rücken.
»Der Dreizack gehört auf die Spitze des Teufelsflugs, nicht?«, fragte er Gus.
Der alte Mann atmete schwer, nickte aber. »Ja. Schlüssel immer ganz oben hin. Karussell, Meerjungfrau, Wahrsager, Drachen und Teufelsflug.«
»Dort ist doch mein Vater gestorben.«
Gus nickte nur.
»Erzähl mir davon«, bat Ethan.
Gus seufzte, zögerte, wandte den Blick ab.
»Ich muss das wissen«, erklärte Ethan. »Meine Augen glühen. Glenda wollte mir nichts sagen. Aber ich verdiene es, die Wahrheit von einem Guardia- Kameraden zu erfahren.«
»Vor vierzig Jahren, die Nacht vor Halloween«, begann Gus schließlich, »da waren die Unberührbaren das letzte Mal draußen. Unsere Zauberin, Glendas Vorgängerin, war krank. Richtig krank. Keiner von uns wusste es – irgendwie Ironie des Schicksals, dass die Zauberin sich nicht selbst heilen konnte, aber wir sind eben auch nur Menschen. Kharos hat ihr Gesundheit und Leben versprochen. Hat sie sozusagen korrumpiert. Alle Schlüssel waren im Turm – wir wussten, das war der sicherste Ort. Kharos wusste das auch, und er wusste, dass er da ohne Hilfe nicht drankam. Also sagte er ihr, sie sollte die fünf Schlüssel holen und sie alle befreien und die Zugbrücke runterlassen.
Na ja, sie war korrumpiert, aber nicht blöd. Sie holte die Schlüssel, aber sie schloss den Turm sicher ab. Kurz vor Mitternacht ließ sie ihren Lover auf den Teufelsflug klettern und den Dreizack oben hineinstecken, und sie wartete unten neben der Teufelsstatue. Sie öffnete die Statue und nahm Kharos’ Urne raus. Und öffnete diese. Er fuhr sofort in ihren Lover und verlangte die anderen Schlüssel. Sie hat dann wohl versucht zu verhandeln, wollte, dass er sie heilt. Kharos « – Gus schüttelte den Kopf – »das hätte sie wirklich besser wissen können, aber keiner von uns hat vorher je einen der Unsichtbaren zu Gesicht gekriegt. Er hat sie getötet.«
»Und so wurde Glenda berufen«, stellte Ethan fest.
Gus scharrte mit den Füßen und starrte blicklos über die kahle Landschaft. »Ja. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Man weiß nicht Bescheid, wenn man berufen wird. Das ist ziemlich verwirrend.«
Ethan erinnerte sich an das Chaos in Afghanistan. Die Ereignisse dort überschlugen sich, sodass es in all dem Wirrwarr unterging, als er berufen wurde, aber es hatte ihm das Leben gerettet.
»Sie war mit deinem Vater, unserem Jäger, in ihrem Wohnwagen. Wachte auf. Hatte plötzlich unerklärliche Angst. Er verstand nicht, was mit ihr geschehen war. Er hielt sie in den Armen, und, na ja …«
»Dabei entstand ich«, vollendete Ethan.
»Es war mehr daran als das«, meinte Gus. » Kharos fuhr in …« Er brach ab.
»… in meinen Vater.«
Gus nickte. »Weder deine Mom noch dein Vater haben es gemerkt. Es ging zu schnell. Und Kharos nutzte die Gelegenheit. Er war vorher sehr lange eingeschlossen gewesen.«
»Also wurde ich gezeugt, während mein Vater besessen war.«
»Ja.«
»Woher wussten sie es dann überhaupt?«
»Deine Mutter sah das Glühen in den Augen deines Vaters.«
Ethan nickte. »Aha.«
»Und dann kehrte Kharos in den anderen Körper zurück. Ließ Vanth frei. Und als ich um Mitternacht kam, um die Drachenbahn zu checken, hatte er gerade Selvans’ Schlüssel hier reingesteckt. War mit der Bahn hinaufgefahren. Ich hörte
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