Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
kommen.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Langsam löste sich Beate von mir und begleitete mich zu der gläsernen Eingangstür, die sich automatisch öffnete.
»Tommy?«
Ich wandte mich noch einmal um.
»Hast du das Gefühl, dass ich vor meinem Leben davonlaufe? «
»Nein, habe ich nicht. Und selbst wenn, wer könnte dir das vorwerfen?«
Die gläsernen Türen schlossen sich hinter mir. Ich ging ein paar Schritte und schaute mich noch einmal um. Beate war bereits verschwunden, nur die Reinigungsmaschine zog weiter ihre Runden. Ich schlenderte zum Taxistand, überlegte
es mir aber anders. Warum sollte ich mich beeilen? Ich hatte Zeit und würde zu Fuß nach Hause gehen.
Es war noch dunkel – die Stunde, wenn die letzten Bars schließen und die Straßenbahnen noch nicht fahren. Alles stand für einen Augenblick still. Wie mein Leben, dachte ich, während ich eine Bierwerbung betrachtete: Ein leeres Glas wurde gefüllt, ausgetrunken und wieder gefüllt. Ich war in der Halbzeit meines Lebens angekommen – wenn man die ersten Jahre, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte, und die endlosen Stunden in der Schule, die ich im Halbschlaf verbracht hatte, großzügig von 49 abzog. Ich hatte fast die Hälfte meines Lebens noch vor mir. Wobei mir der Besuch bei Beate gezeigt hatte, an was für einem seidenen Faden wir alle hingen. Trotzdem: Als ich das Krankenhaus verließ, überflutete mich ein ganz neues, nie erlebtes Gefühl der Erleichterung. Die Farben, die Gerüche und Geräusche – ich hatte sie noch nie so intensiv erlebt wie an diesem jungen Sommermorgen. Gierig sog ich die frische Morgenluft ein, erfreute mich am Klang meiner Schritte und ertappte mich dabei, dass ich die lustige Melodie pfiff, die in einer Endlosschleife im Aufzug des Krankenhauses lief. Halbvoll – halbleer. Alles nur eine Frage der Perspektive. Nach einer kurzen Pause ging das Spiel weiter.
16
Liebe Fortyniners! Beate wird heute Abend leider nicht dabei sein, wenn wir uns bei Susanne treffen. Sie hat seit drei Jahren Krebs. Jetzt haben die Ärzte ein Rezidiv festgestellt, weshalb ihre …
Halt! Was ging es die Gruppe an, dass Beates linke Brust entfernt wurde? Beate sollte selbst entscheiden, was sie preisgeben wollte und was nicht, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen würde. Ich löschte die Mail und begann erneut.
Liebe Fortyniners, Beate muss für ein paar Tage ins Krankenhaus und kann deshalb heute Abend nicht zu unserem Treffen bei Susanne in Grünwald …
Auch nicht gut. Sie würden mich fragen, was los sei. Dann würde ich so tun, als wüsste ich nichts. Aber Ingrid, die nicht blöd ist, würde nachhaken, warum ich dann überhaupt die Mail geschrieben hätte, wenn ich nichts wüsste. Dann würden sie so lange bohren, bis ich von unserem nächtlichen Fotoshooting berichten würde. Den Kommentar von Andreas konnte ich mir denken.
Liebe Fortyniners …
Was für ein bescheuerter Name!
Liebe Freunde ...
Und was war mit den Freundinnen?
Liebe Selbsthilfegruppe …
Warum schrieb ich überhaupt eine Mail? Warum ließ ich die Sache mit Beate nicht einfach auf mich zukommen? Vielleicht würde Beate Susanne anrufen und ihr erzählen, dass sie im Krankenhaus lag. Vielleicht würde sie sogar vorbeikommen,
wobei das ziemlich unwahrscheinlich war – die OP lag gerade 24 Stunden zurück. Ich hatte auf der Station angerufen, wie es gelaufen sei. Aber da ich kein Angehöriger war, gab man mir keine Auskunft. Außerdem: Auch wenn mir dieses nächtliche Shooting die spröde Beate näher gebracht hatte, hätte ich nichts dagegen gehabt, wenn ihre Schwester sich um sie kümmern würde. Ich hatte schon genug Probleme mit meinem Leben.
Hallo zusammen! Beate hat mich angerufen, um mir zu sagen, dass sie keine Zeit hat, zu unserem Treffen …
Warum ruft sie dich eigentlich an? hörte ich Andreas schon pöbeln. Ist das nicht gegen Regel Nummer drei? Dann würden Ingrid und Susanne das dankbar aufgreifen: Andreas sollte einmal darüber nachdenken, dass das vielleicht mit ihm zusammenhängt, wenn Beate sich bei mir meldet. Und schon hätten wir wieder Streit. Dabei konnten wir das überhaupt nicht gebrauchen. Jedenfalls konnte ich das nicht gebrauchen. Es waren – wieder ein banger Blick auf den kleinen Computer an meinem linken Handgelenk – nur noch wenige Tage bis zu meinem Geburtstag. Wenn die anderen sich weiter gegenseitig nachweisen wollten, dass Männer eine primitive Sexualität haben,
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