Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
Vom Netzwerk:
Mastektomie vorschlagen. Das ist …«

    »Ich weiß, was das ist«, unterbrach ich Beate. »Meine Mutter hatte auch Brustkrebs.«
    »Bisher habe ich das immer vermeiden können, aber diesmal …« Wieder brach Beate in Tränen aus.
    »Und was sagt deine Familie?«
    »Ich habe eine Schwester, und die hat zwei Kinder, die irgendwie auch meine Kinder sind. Aber Tobias steckt mitten im Physikum, und Anna hat morgen eine Audition in der Staatsoper, sie will Tänzerin werden.«
    Klar, aber den dummen Thomas kann man nachts mit einer Krebs-Diagnose behelligen, der ist sowieso schon depressiv. Da kann man ruhig noch ein paar Container Sorgen abladen, die Müllhalde quillt doch ohnehin längst über. Aber sofort schämte ich mich für diese Gedanken. »Wie geht’s jetzt weiter?«
    »Die OP ist heute Vormittag.«
    »Heute Vormittag? Warum denn schon heute Vormittag?!«
    Wenn meine Studenten solch einen Dialog in ihre Abschlussdrehbücher schreiben würden, gäbe es Punktabzug. Warum also benutzte ich dieses Muster? Weil mir zum ersten Mal in meinem Leben wirklich klar wurde, dass alles vergänglich ist und zu Abfall wird, wie der leere Kaffeebecher, den die afrikanische Putzfrau mir aus der Hand nahm und in den blauen Müllsack warf, den sie hinter sich herzog wie einen gutmütigen Hund.
    »Die OP ist um 10 Uhr 30«, riss mich Beate aus meinen Gedanken.
    »Und dann turnst du hier immer noch herum, statt im Bett zu liegen und zu schlafen?!«
    Wie jämmerlich! Schon wieder der kaum verhohlene Versuch, mich zu verdrücken. Außerdem: Welcher Mensch könnte in solch einer Nacht schlafen?
    »Sie haben mir ein Schlafmittel gegeben. Aber ich nehme es nicht, ich bleibe lieber wach. Ist meine letzte Nacht.«
    »Komm schon, Beate, von einer Mastektomie stirbt man nicht.«

    »Ich habe keine Angst zu sterben. Es ist einfach meine letzte Nacht mit meiner unversehrten Brust.« Beate zwang sich zu einem Lächeln. »Du bist doch beim Film, Tommy?«
    Scheiße! Ich wusste, was jetzt kommen würde: Sobald ich auf einer Party oder im Urlaub erzähle, dass ich Drehbuchautor bin, bekommen die Leute leuchtende Augen. Nicht, weil sie meinen letzten Film so toll fanden, den haben sie vermutlich gar nicht gesehen. Und wenn sie ihn gesehen haben, haben sie irgendwas auszusetzen. Aber es geht nicht um meinen Film, es geht um ihren Film. Der ist zwar noch nicht gedreht, nicht einmal das Drehbuch ist geschrieben, aber das soll ich übernehmen. Seltsamerweise ist jeder Mensch – ich habe jedenfalls noch niemanden getroffen, auf den das nicht zutrifft – der felsenfesten Überzeugung, sein Leben sei so einzigartig, dass es der ganzen Welt erzählt werden muss, die nur darauf wartet, es in Cinemascope und Dolby Surround auf der Leinwand zu erleben. Aber Beate wollte etwas ganz anderes von mir, wie ich begriff, als sie eine kleine, digitale Fotokamera aus der Tasche ihres Jogginganzugs holte.
    »Würdest du mich fotografieren?«
    »Was?«
    Ich hatte sofort verstanden, was Beate von mir wollte, aber ich suchte nach einer Möglichkeit, mich vor diesem Job zu drücken. Was wäre mit einer Blitzlichtallergie?
    »Würdest du meine Brüste fotografieren, Tommy?«
    »Ich bin Drehbuchautor und kein Kameramann«, begann ich mich herauszureden und schaute mich um, als sei ich auf der Suche nach einer passenden Location für unser Shooting, während ich in Wahrheit den Ausgang suchte. »Außerdem, ähm …« Vor Aufregung begann ich zu stottern. »Wo, wo, wo … willst du das, ähm … sollen wir es machen? Hier geht’s ja irgendwie, ähm … schlecht.«
    »Du glaubst nicht, was wir hier alles schon erlebt haben!« Lachend legte mir Beate ihre Hand auf die Schulter. »Wir mussten mal ein Paar aus dem Bettenaufzug befreien, nachdem die Frau einen Scheidenkrampf bekommen hatte. Wir
gehen auf mein Zimmer!« Beate nahm meine Hand und zog mich in den Aufzug, der wie ein langes Gähnen mit geöffneten Türen im Foyer wartete.
    »Auf dein Zimmer?!« wiederholte ich alarmiert.
    »Nicht, was du denkst. Früher habe ich im Schwesternheim gewohnt, aber das ist auf Dauer nicht gut. Du hast keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Außerdem wirst du immer angerufen, wenn eine Kollegin krank ist. Ich wohne am Rotkreuzplatz über einem Copyshop.«
    Es war nicht gerade das Set, das man sich für diese Art von Fotos wünscht. Da Beate Kassenpatientin war, teilte sie sich das Zimmer mit einer alten Frau, die gerade operiert worden war. Diese hing an Kabeln und Schläuchen und

Weitere Kostenlose Bücher