Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
Vom Netzwerk:
entwickeln, was ich an meinem 50. Geburtstag …

     
    Klang das nicht total bedürftig? Auch wenn ich mich nicht darum riss, der Leiter unserer Gruppe zu sein, warum sollte ich ohne Not den guten Eindruck verspielen, den ich bisher gemacht hatte? Wenn meine Studenten mich für einen Mann von gestern hielten, ich als Vater auf dem besten Weg war, zur Lachnummer zu werden, und mir meine Frau mit ihrem Yogalehrer Hörner aufsetzte, wollte ich nicht auch noch den Respekt meiner Selbsthilfegruppe verlieren. Ich löschte die Mail. Ich würde gar nichts schreiben. Warum auch? Einfach die Situation aussitzen.
     
    Susanne hatte für uns gekocht. Das verstieß zwar gegen die Regeln, aber was da aus der Küche auf die Terrasse ihres Bungalows in Grünwald hinauswehte, roch so verlockend, dass sich niemand beschwerte.
    »Mein Blitzlicht «, erklärte Susanne, als sie die Vorspeise auftrug und dabei lächelte, als sei das hier eine Koch-Show: »Rotbarbe an Schwertmuschel mit Bombay Curry!« Sie hatte sich für den Abend eigens in ein Dirndl gezwängt. »Weil Kurt mich immer so gern darin gesehen hat.«
    Kurt , dieser Name sollte in den nächsten zwei Stunden, in denen Susanne immer wieder in der Küche verschwand, um weitere Köstlichkeiten aufzutischen, eine wichtige Rolle spielen. Kurt kam in jedem Satz mindestens einmal vor, meistens begannen Susannes Sätze mit Kurt .
    »Kurt war Stufensprecher, Torwart der Schulmannschaft, er spielte in der Schülerband, war regelmäßig Klassenbester und bekam bei den Bundesjugendspielen immer die meisten Punkte. Jedes Mädchen unseres Gymnasiums wollte mit Kurt gehen.«
    »Und bestimmt jeder Junge mit dir«, sülzte Michael.
    »Kurt«, Susanne schenkte Michael ein dankbares Lächeln, »sah einfach umwerfend aus. Wenn Kurt einen Raum betrat, verstummten die Gespräche und bald redete nur noch einer – Kurt. Aber niemand war sauer. Kurt war witzig, intelligent und schlagfertig. Wir lernten uns im Schülertheater kennen, wobei
ich Kurt schon vom ersten Schultag an kannte. Er fiel mir sofort auf, aber ich hätte mich nie getraut, ihn in der Großen Pause anzusprechen. Kurt war immer umringt von Bewunderern. Kurt spielte den Oberon, ich die Titania. Kurt war umwerfend, er füllte die Bühne, die ganze Aula. Und er riss mich mit. Mit Kurt hatte ich das Gefühl, dass mir nichts geschehen konnte. Ich ließ mich fallen, Kurt würde mich schon auffangen. Wir wurden ein Paar. War mein erstes Mal. Kurt war sehr einfühlsam und meinte, wenn es mir zu schnell ginge, sei es kein Problem für ihn zu warten. Ich wollte nicht warten. Die Mädchen standen Schlange. Das war meine Chance, und ich griff zu. Ich war gerade 16 geworden. 31 Jahre lang gab es dann nur noch Kurt. Könnt ihr euch das vorstellen? Wobei ich nichts vermisste. Kurt war zärtlich, aufmerksam, liebevoll, er trug mich auf Händen, auch wenn das kitschig klingt.«
    Susanne verschwand wieder in der Küche, um den Hauptgang zu servieren, der unter zwei goldenen Hauben verborgen war, die sie jetzt gleichzeitig hochhob, als wollte sie einen Tusch spielen, den sie sich auch verdient hatte. »Kalbstafelspitz, im eigenen Mark gegart, mit Mangopüree und Löwenzahn! «
    Während wir uns andächtig schweigend über das Essen hermachten, nutzte Susanne die Gelegenheit, weiter von Kurt zu erzählen: »Kurt war immer für mich da. Auf der anderen Seite drehte sich alles um ihn. Vielleicht liegt es daran, dass Kurt zwei Meter groß ist. Kurt überragt alle. Außerdem ist Kurt ziemlich clever, und nichts bringt ihn aus der Ruhe. Wenn man in den Alpen von einem Wettersturz überrascht werden sollte, wäre es von Vorteil, Kurt dabei zu haben. Kurt weiß, welcher Wein zu Fisch passt und wie man die Carabinieri besänftigt, wenn man auf der Brenner-Autobahn in eine Radarfalle tappt. Egal, wohin Kurt kommt, er erobert die Herzen im Sturm. Sechs Jahre lang war ich Elternsprecherin, einmal kommt Kurt mit, nachdem ich mich beschwert hatte, dass die Schule immer an mir hängen blieb. Und ich war
mein Amt los. Natürlich wurde Kurt nicht nur Elternsprecher der Klasse von Ulf, unserem Ältesten, sondern für das ganze Gymnasium.«
    »Warst du nicht sauer?« erkundigte sich Ingrid, deren ohnehin schon skeptisches Gesicht bei jedem Mal, wenn Susanne den Namen ihres Ex-Mannes erwähnte, noch missmutiger wurde.
    »Warum sollte ich sauer sein?«
    »Weil Kurt dir deinen Job weggenommen hat.«
    »Ja, und?« Susanne lachte. »Aber Kurt hat das doch viel besser gemacht

Weitere Kostenlose Bücher