Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)

Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)

Titel: Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achill Moser , Wilfried Erdmann
Vom Netzwerk:
landschaftlichen Gleichförmigkeit mich ständig aufs Neue begeisterte. Ich ging in einem ganz sanften, völlig geräuschlosen Wind dahin, der seit undenklichen Zeiten zum bestimmenden Geist der Wüste geworden war. Er formte und veränderte Dünen, Täler, Ebenen und Berge. Er gestaltete die schönsten Landschaften oder zerstörte sie mit unbändiger Kraft. So hatte ich ihn im Großraum der Wüste Gobi schon auf vielen Wanderungen und Reisen erlebt, denn Chinas Wüsten gelten als Heimstatt des Windes und der Geister. Oft hörte ich nachts in den Sandmeeren gespenstische Stimmen, Geflüster und Gesänge, aber auch Klänge von Flöten, Orgeln oder Violinen. Manchmal war es, als würde mitten im Dünengewoge ein ganzes Orchester spielen.
    Auch der venezianische Weltreisende Marco Polo berichtet in seinem Buch Il Millione ( Die Wunder der Welt ) über die Geisterstimmen in der chinesischen Einöde: Folgendes ist bezeugt: Während des nächtlichen Rittes durch die Wüste kann es geschehen, dass einer ein wenig zurückbleibt, sich von seinen Gefährten entfernt, um zu schlafen oder aus irgendeinem andern Grund. Wenn er sich dann seinen Mitreisenden wieder anschließen möchte, vernimmt er Geisterstimmen, die sprechen, als wären sie seine Gefährten; denn sie rufen ihn oft bei seinem Namen. Manchmal führen sie ihn derart in die Irre, dass er die Karawane nie mehr findet. Auf diese Weise sind schon viele gestorben und spurlos verschwunden. Dazu ist noch zu sagen: sogar am Tage hören die Menschen geisterhafte Stimmen, und nicht selten meinen sie, verschiedene Musikinstrumente, besonders Trommeln, zu vernehmen.
    Nun wisst ihr, was es heißt, diese Wüste zu durchqueren, wie beschwerlich das ist.
    Mein einsamer Weg durch Chinas Wüste Badain Jaran führte mich immer weiter nach Osten. Doch unweit von Zhoujiajing sah ich mich mit einem Male 20 Mongolen gegenüber, die mich herzlich begrüßten. Statt farbenfroher Gewänder trugen sie blaue Arbeitsanzüge des chinesischen Proletariats. Ihr Lkw hatte eine Panne, ein Reifen musste gewechselt werden. Anschließend wollten sie weiter nach Süden, um in Yongchang und Lanzhou im Straßenbau zu arbeiten. Hilfsbereit tränkten sie meine Kamele, füllten die Wasserkanister und luden mich in den Schatten ihres Wagens ein, wo ich mit Brot, Joghurt, getrocknetem Käse und einigen Schalen Milch versorgt wurde. Seit Wochen war ich nicht mehr so verwöhnt worden.
    Nach 26 Tagen trennte ich mich in Minqin von den Kamelen. Es war kein leichter Abschied, als die Tiere die Ladefläche eines Lkws zur Rückfahrt nach Dunhuang bestiegen.
    Nun begann für mich die zweite Phase der Reise. Zu Fuß und per Rucksack machte ich mich weiter auf den Weg nach Osten und tauchte in das Sandmeer der Tengger-Wüste ein, Chinas viertgrößter Einöde mit 36 000 Quadratkilometern. Ein Sandwogenterrain mit weiten Ebenen und welligen Hügeln. Zudem gab es in dieser Region einige Sümpfe und Hunderte von großen und kleinen Seebecken.
    Gelegentlich erschwerten traumhafte Dünenteppiche mein Vorankommen. Vor allem wenn ich in die tiefen Senken abstieg, kam ich hin und wieder vom eingeschlagenen Kurs ab. Meine Peilpunkte lagen so weit entfernt, dass ich alle Sinne zusammennehmen musste, damit sich keine Fehler in meine Kursberechnungen einschlichen.
    Dreimal traf ich eine kleine Karawane, die jeweils von einigen Mongolen geführt wurde. Vermummte Gestalten, die mit einigen beladenen Kamelen aus dem gelbbraunen Fluidum auftauchten. Für mich war das ein Glücksfall. So konnte ich nicht nur meine Wasservorräte auffüllen, sondern bekam auch etwas Proviant für meinen weiteren Weg – und am Abend eine warme Mahlzeit unterm Sternenhimmel.
    Sechs Tage marschierte ich durch die Tengger-Wüste. Keine 200 Kilometer, doch eine Strecke, die mir viel Kraft abverlangte. Gleichwohl erlebte ich Landschaften, in denen die Reduktion der Elemente die Gegenwärtigkeit verstärkt. Monotone und karge Landschaften, die nur wenig mitteilen und doch tief in die Seele eindringen. Mal lief ich am Tag 30 Kilometer, mal 40, ein anderes Mal nur 20 – je nachdem, wie sich mir das ozeangleiche Land offenbarte. Die Mongolen nennen es Tengger Dalei  – »Himmels-Ozean«. Es heißt, wer die Sanddünen der Tengger erklimmt, kann den Himmel berühren.
    Wie Perlen an einer Schnur reihten sich ein paar mongolische Zeltlager, Dörfer oder Oasenstädte aneinander, ehe ich am 42. Tag das über 200 Kilometer lange Helan-Shan-Gebirge

Weitere Kostenlose Bücher