Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
wieder an das Buch von Levine denken. Ich fragte mich, wie ich mit meinen neuen Ansprüchen an Zugewandtheit und Aufmerksamkeit in dieser Gesellschaft überleben sollte, die im Wesentlichen auf Individualismus ausgerichtet ist. Levine hatte es in Zahlen und Feldforschungen bewiesen: In |170| einer so durchrationalisierten Welt wie hierzulande gilt das nicht viel. Ich würde mich weiterhin pausenlos zur Eile angetrieben fühlen, würde mich immerzu dagegen zur Wehr setzen müssen. Es lag nicht an mir allein, dass ich früher immer derart durchs Leben gehetzt bin. Ich war ein Spiegel meiner Umgebung gewesen.
Im Grunde war mir das nicht neu. Wer in diesem Land eine Existenz aufbauen und sie erhalten will, wer als Angestellter in seinem Beruf weiterkommen und Karriere machen möchte, musste pünktlich und zuverlässig sein, schnell und effizient. Schrat und mir hatte sich das tief ins Bewusstsein gegraben. Wir geben uns zwar gern sozial und familiär, doch wir wussten genau, dass wir niemals überlebt hätten, wenn wir uns allein auf unsere Großfamilien verlassen hätten. Die weichen Sessel, die im Salon meiner Eltern standen, waren so tief, dass man sich mühelos hineinfallen lassen konnte, doch nur mit größter Anstrengung wieder daraus herauskam. In der Tat hat sich im Adel bis heute der Konsens erhalten, dass es die Fähigkeit zur Muße durchaus zu kultivieren lohnt. Susanne Beyer schreibt: »Der Adel galt als Klasse der Müßiggänger. Auf ihren Schlössern feierten sie Feste, und um den Kult um die Muße noch mehr zu steigern, ließen sie sich Landsitze für den Sommer bauen, denen sie vielsagende Namen gaben. Der eigentlich fleißige Friedrich der Große nannte sein Sommerschloss »Sanssouci« (ohne Sorgen), ein Zeichen dafür, dass auch er den Ansprüchen seines Standes, zur Muße fähig zu sein, genügen wollte.«
Adlige sehen ihre Aufgabe darin, zu erhalten, nicht zu erneuern. Hektik und im Handumdrehen erlangte geschäftliche Erfolge sind Ziel und Charakteristika einer |171| neuen Welt, in der das schnelle Geld mehr zählt als Nachhaltigkeit, in der es allein darum geht, dass ein einzelner Mensch innerhalb einer einzigen Generation Millionen erwirtschaftet, um sie anschließend und allein zu seinem persönlichen Nutzen wieder auszugeben. Unter Aristokraten bemüht man sich nicht um kurzfristige Erfolge. Hier gilt die stillschweigende Übereinkunft, es sei unmöglich, innerhalb einer Generation ein derart großes Vermögen anzuhäufen, um beispielsweise ein Schloss zu erwerben. Man setzt also lieber auf Beständigkeit.
Für mich war das nichts. Wäre ich damals in den bequemen Sesseln sitzen geblieben, hätte ich weder studiert noch promoviert und auch nie einen einzigen Artikel oder ein Buch verfasst. Muße und Beständigkeit waren mir viele Jahre lang zutiefst suspekt, ich wollte sie um alles in der Welt überwinden und derlei Sitzgelegenheiten, ja der ganzen Kultur, die damit verbunden ist, so weit wie möglich entkommen.
Jetzt galt es, ein gesundes Mittelmaß zu finden. Ich spürte die Dissonanz mit der Außenwelt, zu der mein neuer Ansatz geführt hatte. Wenn ich mich nicht dauernd abgrenzen wollte, musste ich wahrscheinlich nicht nur mein Verhalten und meine Ernährung, sondern auch meinen Lebensraum verändern. Vielleicht sollten wir umziehen. Wir wären nicht die Ersten, die aufs Land fliehen, weil ihnen das Leben mit Kindern in der Großstadt zu hektisch erscheint. Aus meinem Bekanntenkreis kenne ich die unterschiedlichsten Modelle dafür. Einige Freunde von uns haben sich zu mehreren einen alten Bauernhof unweit der Ostsee gekauft, weil eine der Töchter Asthma hatte und die Stadtluft nicht mehr vertrug. Während die eine Familie ins Hauptgebäude gezogen ist, hat die andere |172| sich die Scheune zu einem lichten Atelierhaus ausgebaut.
Andere wiederum haben sich einer klassischen Kommune angeschlossen und leben gemeinsam auf dem Dorf. Sie bauen ihr eigenes Gemüse und Obst an und haben die ehemaligen Stallungen ausgebaut. Wer ein Fest feiern möchte, kann die Räumlichkeiten mieten. Auf Wunsch werden die Gäste mit Produkten aus den kommuneneigenen Gärten bewirtet.
Auch Carlos Petrini hatte nach Antworten auf derlei Fragen gesucht. Nachdem
Slow Food
ins Leben gerufen worden war, regte er seine Mitstreiter an, nach Lebensräumen und Orten zu fahnden, in denen ein Umgang mit der Wirklichkeit gelebt wird, wie sie
Slow Food
propagiert. Daraus entstand die Bewegung
Slow City
oder auch
Città
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