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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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Autofahrer dort so rasen.
    Moderne Wohlstandsgesellschaften sind komplett durchrationalisiert. Die Währung Zeit ist Geld wert. Speditionen liefern pünktlich, bei Verspätungen von Zügen und Flugzeugen haben Kunden Anspruch auf Schadensersatz. Theaterkarten sind im Internet erhältlich, damit keiner an der Abendkasse Schlange stehen muss. Warten ist in Europa generell verpönt – ganz im Gegensatz zu anderen Regionen und Erdteilen, wo man möglicherweise gerade dann etwas erhält, wenn man bereit ist, darauf zu warten, wo das Begrüßungsritual bisweilen größere Bedeutung hat als der eigentliche Grund des Kommens und Geduld die einzige Chance bietet, ans Ziel zu gelangen. So wissen wir dank der Forschungen des Anthropologen Pierre Bourdieu, dass beispielsweise die Kabylen, ein kollektivistisch organisiertes Volk in Algerien, jeden Anschein von Eile verachten. Sie betrachten ihn als Mangel von Anstand und bezeichnen Uhren als »Mühlen des Teufels«.
    Levine zitiert den Anthropologen Allen Johnson mit der These, Industrialisierung führe prinzipiell zu einem evolutionären Fortschreiten von Gesellschaft, in der erst Zeit im Überfluss, dann hinreichend Zeit und schließlich gravierender Zeitmangel vorherrscht. Diese Entwicklung sei unausweichlich. Zeit haben nur Menschen, in deren Gesellschaften bislang keine Industrialisierung stattgefunden hat. Am untersten Ende der Tempo-Skala liege, so Johnson, die Steinzeitökonomie der sogenannten »primitiven« |168| Gesellschaften. So seien die Kapauku auf Papua davon überzeugt, dass es nicht gut ist, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu arbeiten. Die Kung-Buschmänner würden zweieinhalb Tage pro Woche arbeiten und normalerweise sechs Stunden pro Tag. Auf den Sandwich-Inseln arbeiteten die Männer vier Stunden pro Tag. »Eine Dobe-Frau aus Australien sammelt in einem Tag die Nahrung, die sie braucht, um ihre Familie drei Tage zu versorgen. Der Rest der Zeit gehört ihr – um Besuche zu machen und zu empfangen, an ihrer Stickerei zu arbeiten oder, was oft der Fall ist, einfach nichts zu tun.«
    Hinter jeder Kultur steckt eine klare Überzeugung. Wer auf Kollektive setzt, erwirkt ein anderes Arbeitstempo als Länder, die den Individualismus propagieren. Entsprechend bestimmen die allgemeinen Lebensbedingungen das Verhalten ihrer Bewohner. Für Reisende hat das durchaus Vorteile. Schließlich kann ein langsameres Lebenstempo auf den Besucher – sollte er auf der Suche nach Ruhe und Entspannung sein – sehr angenehm wirken. Nicht umsonst zeichnen sich beliebte Ferienziele dadurch aus, dass die Zeit dort gemächlicher zu vergehen scheint. Die Deutschen reisen besonders gerne nach Spanien und Italien, weil sie in diesen Ländern ungestört der »dolce vita« frönen können. Leben und arbeiten würden sie dort allerdings lieber nicht.
     
    Wenige Tage später stand ich an der Kasse des Supermarktes, in dem ich morgens manchmal einkaufe, denn er liegt direkt gegenüber der Schule. Verschlafen suchte ich in meinem Portemonnaie nach passendem Kleingeld. War da nicht zuletzt noch ein Zwei-Euro-Stück gewesen? Die Verkäuferin wartete geduldig.
    |169| »Sie haben hier besonders gute Brötchen«, sagte ich.
    »Das sind richtige Ostschrippen«, erwiderte die Verkäuferin stolz. »Das ist nicht so’n aufgeblasenes Zeug. Die kann man auch am nächsten Tag noch aufbacken.« Ich kramte weiter nach den Münzen. Hinter mir bildete sich schon eine Schlange.
    »Klasse, dass Sie die hier haben«, sagte ich. »Ich bin schon durch die ganze Stadt gelaufen, um solche Brötchen zu finden.« Die Verkäuferin lachte.
    Ich hörte, wie sich hinter mir jemand ungehalten räusperte. Endlich hatte ich mein Geld beisammen. Ich bezahlte und schaute mich vorsichtig um. Mindestens fünf Leute warteten schon hinter mir. »Was ist denn da vorn los?«, hörte ich einen am Ende rufen.
    »Kann mal einer die zweite Kasse aufmachen?«, rief ein anderer.
    Die Verkäuferin gab mir mein Restgeld und nickte mir freundlich zu. »Na, dann. Bis zum nächsten Mal«, sagte sie. Ich verstaute das Wechselgeld im Portemonnaie und griff nach meiner Brötchentüte. Ein Kunde drängelte sich ungeduldig an mir vorbei und strebte dem Ausgang zu. Er hatte offenbar schon bezahlt. Plötzlich fühlte ich mich meilenweit von der Wirklichkeit entfernt. War ich zu langsam geworden? Sobald man ein paar freundliche Worte mit der Kassiererin wechselte, machte man sich hierzulande schon unbeliebt.
    Auf dem Nachhauseweg musste ich

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