Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
auf und bot ihm einen Kaffee an. Eine dreiviertel Stunde später trat seine Vorgesetzte herein, las allerdings erst einmal ihre Post und beachtete ihn gar nicht. Nachdem eine weitere halbe Stunde vergangen war, rief sie ihn schließlich in ihr Büro, entschuldigte sich beiläufig, dass sie ihn hatte warten lassen, plauderte ein paar Minuten mit ihm und entschuldigte sich dann: Sie müsse jetzt rasch noch zu einer anderen Verabredung. Levine musste zur Kenntnis nehmen, dass seine Chefin die Angewohnheit hatte, mehrere Verabredungen für denselben Zeitpunkt zu treffen und zu allen zu spät zu kommen. Resigniert schreibt er: »Offenbar liebte sie Verabredungen.«
Die Ergebnisse seines Experiments sind ebenso interessant wie einleuchtend: Die Zahlen zeigen, dass Orte und Kulturen mit einer wachsenden Wirtschaft ein höheres |165| Schritt- und Lebenstempo aufweisen als ärmere Länder. Auch wurde in Städten ein durchweg höheres Tempo gemessen als auf dem Land. Ein durchschnittliches Großstadtkind eilt beinahe doppelt so schnell durch einen Supermarkt wie das Kleinstadtkind durch den kleineren Lebensmittelladen. Offenbar wirken die Reize auf das eine nicht so stark wie auf das andere. Schließlich war auch das Klima des jeweiligen Landes ein Indikator für das Tempo, das dort herrschte. In wärmeren Ländern bewegen sich die Menschen generell langsamer als in kälteren Regionen.
In einer Hinsicht erschienen mir Levines Ergebnisse überraschend: Entscheidend für die unterschiedlichen Lebenstempi, so schreibt er, sei letztlich der Unterschied zwischen Individualismus und Kollektivismus. Individualistische Kulturen, die mehr Wert auf Leistung als auf Zusammengehörigkeit legen, haben weniger Probleme mit einem Alltag, der von Zeitplänen und Uhrzeiten bestimmt wird, als homogene Gesellschaften mit einem hohen sozialen Zusammenhalt. Der Einzelne und seine Kernfamilie können, wenn sie entsprechenden Ehrgeiz entwickeln, besser auf Pünktlichkeit achten als ein ganzes Kollektiv. Das kam mir bekannt vor. Als ich in den achtziger Jahren im sozialistischen Polen studierte, mussten die Leute fast überall Schlange stehen. Ob Mehl oder Butter, ob Fleisch oder Käse – das Angebot an Lebensmitteln war so knapp, dass jeder gewöhnliche Einkauf zur Qual wurde. Einzig Brot gab es immer und überall zu extrem günstigen Preisen. Trotz ihres beschwerlichen Lebens waren die Menschen äußerst hilfsbereit und nahmen sich viel Zeit füreinander. Wann immer ich bei Freunden zu Besuch war, boten sie mir eine Tasse Tee an und setzten |166| sich zu einem Schwatz mit mir an den Küchentisch. Alles andere konnte warten. Es war, als gäbe es überhaupt keine Uhrzeit.
Trotz der Aufmerksamkeiten hatte ich Schwierigkeiten, mich dauerhaft mit dem dort herrschenden Lebenstempo abzufinden. An einem der vielen Winterabende, an denen ich in meinem Lubliner Studentenstübchen im Südosten des Landes saß und Vokabeln lernte, war ich der Gemächlichkeit in diesem Land plötzlich derart überdrüssig, dass ich in sinnloser Vergnügungslust in die Nacht hinausstürzte. Ich wollte etwas unternehmen, wollte mich schnell bewegen und unter Menschen sein. Ich klappte meine Bücher und Hefte zu, löschte das Licht, warf mir einen Mantel über und lief hinunter auf die Straße. Aufgeregt lief ich den Bürgersteig vor meinem Haus auf und ab, doch da war nichts. Kein Mensch war unterwegs, es war dunkel, die Straßenlaternen brannten. Obwohl es noch früh am Abend war, hatte es die meisten Leute längst in ihr warmes Zuhause getrieben. Wegen der ewigen Benzinknappheit fuhren auch kaum Autos. Ich rannte zur nächstbesten Haltestelle, aber es kam kein Bus. Fahrpläne und feste Abfahrtszeiten galten hier nicht. Stundenlang hätte ich warten müssen. Wenn ich mich sofort und schnell fortbewegen wollte, hätte ich ein Taxi nehmen müssen. Aber wohin wäre ich dann damit gefahren? Es gab keinen Club oder eine Kneipe, wo um die Zeit etwas los war. In dem Land herrschten Sozialismus und Mangelwirtschaft, kurz gesagt: die totale Stagnation. Mir fiel nichts Besseres ein, als wieder zurückzugehen und weiter Vokabeln zu lernen. Mit hängenden Schultern trottete ich nach Hause.
Heute ist das natürlich vollkommen anders. Auch Polen |167| wurde von Marktwirtschaft und Individualismus eingeholt. Das Leben dort ist hastig geworden, die Menschen sind alle ungeheuer beschäftigt. In kaum einem anderen europäischen Land passieren so viele Unfälle wie in Polen, weil die
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