Von Kamen nach Corleone
zahllosen Unternehmern und Politikern drohte Haft – wegen Bestechung, Amtsmissbrauch und illegaler Parteienfinanzierung.
Die Fundamente der Cosa Nostra waren ins Wanken geraten. Sie hatte ihre alten politischen Ansprechpartner verloren und noch keine neuen gefunden. Und sie war durch die Verräter in den eigenen Reihen geschwächt: Was mit den Aussagen des abtrünnigen Mafiabosses Tommaso Buscetta begonnen hatte, war zu einem Blutsturz geworden. In Scharen beschlossen die Mafiosi, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Nicht nur, um ihre Seele zu retten, sondern vor allem ihre Haut; Totò Riina gilt als der blutrünstigste Boss aller Zeiten.
Und schließlich geschah im Januar 1992 auch noch das, was die Cosa Nostra nie für möglich gehalten hätte: Alle Urteile des Maxiprozesses wurden nicht wie gewohnt zurechtgebogen oder besser: vom Kassationshof wieder aufgehoben.
Nachdem die Urteile des Maxiprozesses bestätigt worden waren, ermordete die Mafia zunächst Andreottis Statthalter auf Sizilien. Den ehemaligen christdemokratischen Bürgermeister von Palermo, Salvo Lima. Er wurde von zwei Killern vor dem Hotel Palace am Strand von Mondelloniedergestreckt. Der Mord sollte der Denkzettel für den Christdemokraten Giulio Andreotti sein, dessen Partei von der Mafia über Jahrzehnte mit Wählerstimmen für die Zusammenarbeit belohnt worden war – und der dieses Mal seiner Pflicht nicht nachgekommen war, dafür zu sorgen, dass die Urteile des Maxiprozesses aufgehoben wurden. Daraufhin hatten die Bosse beschlossen, mit der Konkurrenz zusammenzuarbeiten. Aber auch die Hinwendung zu den Sozialisten unter Bettino Craxi erwies sich als wenig hilfreich – war es doch der sozialistische Justizminister Claudio Martelli, der den Mafiajäger Giovanni Falcone nach Rom in das Ministerium geholt hatte. Ohne politischen Ansprechpartner war die Mafia ein Fisch auf dem Trockenen. Oder wie es der Stellvertreter Provenzanos, der abtrünnige Mafioso Antonio Giuffrè, viele Jahre später den Staatsanwälten sagen sollte: »Mafia und Politik verhalten sich zueinander wie Fisch und Wasser. Es gibt kein Wasser ohne Fische. Und keinen Fisch ohne Wasser.«
Also beschloss Cosa Nostra, zum endgültigen Schlag auszuholen. Kaum sechs Wochen nachdem Bernardo Provenzanos Familie wieder nach Corleone zurückgekehrt war, wurde Staatsanwalt Giovanni Falcone ermordet, am 23. Mai 1992, zerrissen von einer Autobombe, zusammen mit vier Leibwächtern und seiner Frau Francesca. Am 19. Juli 1992 starb sein Kollege, der Staatsanwalt Paolo Borsellino, ebenfalls hingerichtet durch eine Autobombe. Mit ihm starben fünf Leibwächter.
Italien stand unter Schock. »Palermo = Beirut« titelten die Tageszeitungen. Mit der »Strategie des Terrors« wollten Totò Riina und Bernardo Provenzano den italienischen Staat in die Knie zwingen: Entweder mit uns. Oder.
All das schwebt über mir, in diesem tiefen rheinischen Himmel. Zwischen dem friedlichen Schwerte und dem beschaulichenWillich, zwischen Niederrhein und Sauerland, wo sich Paolo Provenzano wohlgefühlt haben wird. Fern von jedem Verdacht, fern vom Argwohn, fern von der »Sippenhaft«. Auffallend oft werfen die Angehörigen der Bosse der Öffentlichkeit vor, sie unter Sippenhaft zu nehmen. Die Mafia hat zwar die Sippe zur Keimzelle ihrer Organisation gemacht, aber wenn es um Verantwortung geht, wird reflexartig der Vorwurf der Sippenhaft gemacht. Mütter erziehen ihre Söhne zu guten Mafiasoldaten und ihre Töchter zu verschwiegenen Mitwisserinnen, und am Ende gerieren sich alle als Opfer. Der Umstände.
Wenige Jahre nach ihrer von den Ermittlern protokollierten Klage in der Schiffskabine gehen Angelo und Paolo Provenzano zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Sie traten auf wie zwei Kronprinzen, die sich nur unter der Bedingung den Fragen der Journalisten stellen, dass man sie in Zukunft nicht weiter belästige. Die Idee stammte vermutlich von ihrer Anwältin, der Mafiaanwältin Rosalba Di Gregorio, der stets das Wohlergehen ihrer Klienten am Herz liegt. Erst gewährten die beiden Söhne dem britischen Fernsehsender BBC ein Interview, vielleicht, um Weltläufigkeit zu beweisen. Die italienische Presse kam danach: paritätisch ausgewogen ein Interview für die bürgerlich-konservative La Stampa und eines für die linksliberale Repubblica . Rosalba verteidigt sehr geschickt die Interessen ihrer Klienten. Sie weiß, wie wichtig die Öffentlichkeitsarbeit für sie ist.
Paolo und Angelo Provenzano verlangten etwas
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