Von Kamen nach Corleone
Richtung befinde, merke ich erst, als mir ein Auto entgegenkommt und wütend hupt. Ich versuche so zu tun, als sei ich unsichtbar, eine Ortsfremde, ja praktisch eine Ausländerin, für die das deutsche Straßenverkehrssystem ein Mysterium ist, bis mir einfällt, dass mein Auto kein italienisches, sondern ein deutsches Kennzeichen hat. Und dann ist auch schon alles egal, ich fahre einfach unbeirrt bis an das Ende der Einbahnstraße weiter.
Später hupt mich wieder ein Auto an. Obwohl ich richtig herum fahre. Die Fahrerin reckt sich erbost aus dem Fenster und versucht, mich zum Stehenbleiben zu zwingen. Das ist der Nachteil, wenn man einen weißen Alfa Spider fährt: Man kann nicht darauf hoffen, übersehen zu werden. Resigniert lasse ich das Fenster herunter. Ein Wortschwall ergießt sich über mich. Die einzigen Worte, die ich verstehe, sind: »fahrlässig« und »anzeigen«. Ich überlege mir, ob ich Italienisch sprechen soll, in der Hoffnung, bei der Frau etwas Mitgefühl auszulösen.
»Ich habe mich verfahren, es tut mir leid«, sage ich schließlich. Schuldbewusst. Und schließe das Fenster wieder.
Wenn ich mich in Italien verfahre, wollen mich alle retten. Und hier will man mich verhaften.
Nachdem ich die Innenstadt durchquert habe, bestaune ich ein fast mittelalterlich anmutendes Kopfsteinpflaster unter einer Platanenallee, die aussieht, als sei sie aus Südfrankreich eingeflogen worden, und finde endlich die italienische Mission, einen nüchternen Kubus, rechtwinklig, zweckmäßig wie eine Getränkelagerhalle. Don Cataldo Ferrarese steht bereits auf der Straße und winkt mich wie ein Verkehrspolizist in die Parkbucht ein. Er ist ein kleiner, runder Mann im Wollpullover.
Auf dem Weg in sein Büro schafft er es, ein Mädchenaus der sizilianischen Volkstanzgruppe zu loben, den danebenstehenden Vater zu seiner Tochter zu beglückwünschen, den Duft eines frisch gebackenen Mandelkuchens zu preisen, im Vorbeigehen zwei Hallelujah singende Klavierspielerinnen zu würdigen, um schließlich mit einer zärtlichen Geste eine Rose in eine selbstgetöpferte Vase auf seinen Schreibtisch zu stellen. Wer es noch nicht ist, will schlagartig katholisch werden, wenn er Don Cataldo fünf Minuten kennt.
Die Wände seines Büros sind mit Fotos geschmückt: Don Cataldo inmitten der Gevelsberger Feuerwehrmänner, Don Cataldo beim Sankt-Martins-Zug, Don Cataldo umringt von seinen Salesianer-Brüdern. Daneben hängen gut gemeinte Kinderzeichnungen und Erinnerungsfotos vom letzten Ausflug nach Butera, der italienischen Partnerstadt von Gevelsberg. Die rund tausend hier lebenden Sizilianer stammen fast alle aus Butera, einem kleinen Ort unweit von Caltanissetta, im Südwesten Siziliens. Im gesamten Ennepe-Ruhr-Kreis leben sechstausend Italiener.
Die erste Generation der Sizilianer kam als Gastarbeiter in den sechziger Jahren, um in den Eisenfabriken zu arbeiten, die heute alle geschlossen sind. Nun lebt bereits die dritte Generation in Gevelsberg, die Don Cataldo unverdrossen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren versucht, wie einen Stein in ein Mauerwerk. Auch wenn der Stein immer wieder herausfällt und das Mauerwerk brüchig geworden ist, Don Cataldo gibt nicht auf. Er bietet Hausaufgabenhilfe und berufliche Weiterbildung an, er veranstaltet Informatikseminare und Deutschkurse. Bildung ist das Wichtigste für die Integration! Das hat er auch schon der Generation der Eltern und der Großeltern gepredigt. Und sie angehalten, sizilianische Volkstänze zu tanzen. Tänze, die in Sizilien niemand mehr tanzt.
Man wollte nur verdienen und sich nicht integrieren, sagt Don Cataldo. So sei es anfangs gewesen, als die ersten Sizilianer nach Gevelsberg kamen, in jenen Zeiten, als die Deutschen die italienische Mission noch als Zigeunerlager schmähten. Don Cataldo verstand das nicht. Als er nach Gevelsberg kam, kannte er nur eine einzige deutsche Wendung: Danke schön! Aufgewachsen ist er in Potenza, in der Basilikata, einem der sprödesten und ärmsten Landstriche Italiens. Er weiß um die Stärken und um die Schwächen Süditaliens. Warmherzigkeit und Toleranz, Unterdrückung und Gewalt. Er kennt den Krieg der Mafia gegen die Armen, er weiß, was es bedeutet, in diesem Krieg aufzuwachsen, einem Krieg gegen Kultur, Zivilisation und Menschenwürde.
»Früher waren wir die Spaghettifresser«, sagt Don Cataldo, »heute lieben die Deutschen die italienische Küche.« Er lächelt nachsichtig. Als ließe sich die italienische Kultur auf
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