Von Kamen nach Corleone
nach dem Fall der Mauer: Die ’Ndrangeta kaufte Immobilien und Restaurantsim Osten, speziell in Thüringen und Sachsen. Sie baute Einkaufszentren und Hotels. Seit dem Jahr 2000 hatten die Clans erfolgreich die Wirtschaft infiltriert. Aus den Bossen waren Unternehmer geworden, Unternehmer mit unerschöpflichem Kapital, Unternehmer, die jede Konkurrenz ausschalten konnten und die über beste gesellschaftliche Kontakte verfügten. Gleichzeitig wurde der lukrative Drogenhandel keineswegs aufgegeben. Wie jedes kluge Unternehmen hat sich die ’Ndrangheta in Deutschland diversifiziert: Es gibt Gruppen, die sich ausschließlich um den Drogenhandel kümmern, während andere Gruppen die Drogengelder in die legale Wirtschaft investieren, kommunale Verwaltungen unterwandern, öffentliche Ausschreibungen durch Bestechung manipulieren.
Die vierzigjährige Deutschlanderfahrung habe die ’Ndrangheta gelehrt, dass es klüger sei, auf Gewalt zu verzichten. »Korruption funktioniert in Deutschland besser als Einschüchterung«, sagte Macrì. Und fügte hinzu: »Geld überwindet jedes Hindernis.«
Vor allem in den letzten Jahren sei die italienische Mafia verstärkt in die deutsche Bauindustrie eingestiegen, einem ihrer klassischen Geschäftsfelder. Sie stelle die Subunternehmer für die öffentlichen Aufträge, liefere den Beton zu Dumpingpreisen, transportiere die Baumaterialien mit ihren LKWs und lasse die Arbeiter, die in Mannschaftsstärke von Italien nach Deutschland eingeschleust würden, durch in Deutschland lebende Italiener überwachen.
Ein weiteres Geschäftsfeld, das die ’Ndrangheta in Deutschland entdeckt habe, sei die Prostitution – die von den ’Ndranghetisti einst als ehrverletzend und ihrer Männlichkeit abträglich abgelehnt worden war. Die Verdienstmöglichkeiten haben auch hier die Bedenken schnell aufgelöst. Das hänge mit den Synergieeffekten mit anderenMafiaorganisationen aus dem Osten zusammen, zwischen ihnen herrsche keine Konkurrenz, eher eine Arbeitsteilung. Die vermutlich ähnlich wie in der Lombardei ablaufe, wo der Drogenhandel auf der Straße, also der Drogeneinzelhandel, an die Nordafrikaner abgetreten worden sei. Die ’Ndrangheta kümmere sich nur noch um das Große, Ganze.
Nein, die Zusammenarbeit zwischen den deutschen und den italienischen Beamten könne er nicht beklagen, sagte Macrì, die deutschen Polizisten könnten auch nicht mehr erreichen, als ihnen die Gesetze erlauben. Wünschenswert wäre es allerdings, wenigstens einen deutschen Staatsanwalt zu haben, mit dem man sich austauschen könne, auf Augenhöhe, einen Ansprechpartner. So wie es den deutschen Verbindungsmann von Interpol in Rom gebe.
Ansonsten sei es wohl auch ein kulturelles Phänomen, dass die Existenz der Mafia in Deutschland kaum wahrgenommen werde. Ein Phänomen, das er in fast gleicher Form in der Lombardei beobachte, wo sich die Bürgermeisterin von Mailand beschwere, wenn die Antimafiastaatsanwaltschaft vor mafioser Infiltration warnt, weil die Bürgermeisterin dies für eine Verunglimpfung Mailands halte. Frei nach der Maxime: Was nicht sein darf, das kann nicht sein.
In Deutschland halte man die Mafiosi für normale Unternehmer, die erfolgreich Geschäfte machten. Es sei wichtig, dass sich die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland ändere, dass die Deutschen ihren Blick schärften und Sensoren für die Existenz der Mafia entwickelten. Denn wenn sich erst die Interessen der Mafiosi mit denen der Deutschen verschweißten, sei es schwer, das Schweigen zu brechen. In der Lombardei sei es bereits so weit, dass lombardische Unternehmer die Existenz der ’Ndrangheta inMailand leugneten. Es habe lombardische Unternehmer gegeben, gegen die ermittelt wurde, die behaupteten, das Wort ’Ndrangheta erst in Wikipedia gefunden zu haben, sonst hätten sie noch nie davon gehört.
»Wenn in Deutschland noch länger gewartet wird, ist es zu spät«, sagte Vincenzo Macrì. In den letzten zehn Jahren sei viel Zeit verloren worden, weil sich Deutschland ausschließlich auf den Kampf gegen den islamischen Terrorismus konzentriert habe. In Italien habe man in den achtziger Jahren einen ähnlichen Fehler gemacht, als sich alle Anstrengungen auf den Kampf gegen die roten Brigaden konzentriert habe. Die Mafia habe in jenen Jahren eine Blütezeit gehabt, von der sie noch heute zehre.
Und dann blickte er wieder auf den Teletext. Der meldete in jenem Augenblick den Beschluss des italienischen Parlaments, das geltende Abhörgesetz
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