Von Kamen nach Corleone
Respekt. Jetzt, wo der Vater verhaftet worden sei, erwarteten sie nichts anderes, als so zu leben wie jeder andere Bürger auch. Stattdessen seien sie in Sippenhaft genommen worden, sie würden belauert und kontrolliert, jedes Unternehmen, das sie gründeten, werde sabotiert, weil es angeblichdie »Frucht der durch Geldwäsche illegal erworbenen Güter« sei.
Ich versuche mir die Söhne von Provenzano vorzustellen, als sie sich in der Kanzlei von Rosalba di Gregorio den Fragen des La-Stampa -Journalisten Francesco La Licata und dem Kollegen von der Repubblica stellten, Francesco Viviano. Die Mafiaanwältin Rosalba di Gregorio wird wie immer ausgesehen haben wie ein Rockstar, irgendetwas zwischen Marianne Faithfull und Lady Gaga. Das letzte Mal, als ich sie im Justizpalast von Palermo traf, trug sie einen kurzen Rock, schwarz-lila gestreifte, wollene Pippi-Langstrumpf-Kniestrümpfe und hoch geschnürte Wanderstiefel mit lila Schnürsenkeln.
Rosalba vertritt schon seit langem die beiden Söhne Provenzanos, sie ist eine der erfolgreichsten Mafiaverteidigerinnen Siziliens. Ihre Kanzlei hütet die Mysterien der italienischen Republik. Rosalbas Mann Franco Marasà übernahm die Verteidigung von Bernardo Provenzano, nachdem dieser verhaftet worden war, und Rosalba vertritt auch den Boss Pietro Aglieri, einen großen Vertrauten Provenzanos. Und sie kennt die Geheimnisse von Vittorio Mangano, jenem verstorbenen Mafiaboss, der als sogenannter Stallmeister in der Villa von Silvio Berlusconi lebte, laut Ermittlern als Emissär der Cosa Nostra: Der Mafioso Vittorio Mangano war schon den Staatsanwälten Falcone und Borsellino als Kontaktmann zwischen der Mafia und Silvio Berlusconi identifiziert worden. Silvio Berlusconi und seine rechte Hand Marcello Dell’Utri lassen bis heute keine Gelegenheit aus, den verstorbenen Mangano als Held zu feiern, weil Mangano stets abgelehnt hatte, mit der Justiz zusammenzuarbeiten und auszusagen, was er über die Mafiaverflechtungen Berlusconis und Dell’Utris wusste. Selbst als Marcello Dell’Utri in zweiterInstanz als Gehilfe der Mafia verurteilt wurde, rühmte er erneut Manganos heldenhafte Verschwiegenheit. Und betonte, dass er sich, falls er sich im Gefängnis befände, der eigenen Verschwiegenheit keinesfalls sicher sei. Was viele als mafiose Drohung gegenüber Silvio Berlusconi werten.
Der Journalist Francesco La Licata berichtet seit Menschengedenken über die Mafia, er wird in Rosalba Di Gregorios Kanzlei wie immer mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper dagesessen haben, mit seinem von der Chronistenpflicht gekrümmten Rücken – und dem Wissen, dass die Bekenntnisse, die er hörte, keine waren. Dass die beiden Söhne des Bosses über die Mafia wie über ein Gesellschaftssystem reden würden, in dem sie aufgewachsen waren. Aber von Morden würde nicht die Rede sein. Auch nicht von der Angst. Kein Wort über die Schlächter. Francesco Viviano wird mit unbewegtem Gesicht zugehört haben, so wie er es in den Jahren als Mafiareporter gelernt hat, einem Gesicht, das weder Überraschung noch Verdruss verrät.
Die Fragen von Francesco La Licata und Francesco Viviano waren höflich und zuvorkommend. Francesco fragte, ob die öffentliche Aufmerksamkeit, unter der die Söhne zu leiden hätten, nicht vielleicht auch aus dem Schaden resultiere, den die Organisation, die von seinem Vater geführt wurde, angerichtet habe?
Sein Vater sitze wegen seiner Vergehen in Haft, antwortete Angelo Provenzano. Es bestünde keinerlei Grund, die Familie auch zur Rechenschaft zu ziehen. Über die Zeit, als die Familie auf der Flucht war, wolle er nicht sprechen. Es sei eine erzwungene Flucht gewesen.
Was er davon halte, dass manche Antimafiastaatsanwälte die Kinder von Bossen aufforderten, ihre Väter zu verleugnen?
»Aber wie können Sie nur so etwas fragen«, sagte Angelo Provenzano.
Sein jüngerer Bruder Paolo schwieg fast während des ganzen Interviews.
Auch der Sohn eines weiteren berüchtigten sizilianischen Mafiabosses beschwerte sich darüber, in Sippenhaft genommen worden zu sein: Vincenzo Santapaola ist der Sohn von Benedetto Santapaola, genannt Nitta – jenem Mafiaboss aus Catania, der unter anderem wegen der Ermordung des Staatsanwaltes Paolo Borsellino verurteilt worden war. Der Sohn sitzt wegen Mafiazugehörigkeit wie sein Vater in sogenannter Hochsicherheitshaft, aus der heraus es ihm gelang, einen seitenlangen Brief an die sizilianische Tageszeitung La Sicilia zu schicken. Die ihn
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