Von Kamen nach Corleone
aufwachsen mussten, nicht verantwortlich ist.
Soll ich mich darüber jetzt etwa freuen? Soll ich mich darüber freuen, dass die Dinge durch Zufall passieren? Soll ich mich darüber freuen, dass diese Art von Familienzusammenführung durch Zufall passiert? Und was heißt überhaupt Zufall? Ich nenne es Zufall. Er nennt das den Willen Gottes. Man gibt uns gegenüber ja nicht mal zu, dass unser Leben zufällig passiert ist. Er glaubt, dass er das alles uns zuliebe gemacht hat. Wie oft sagt er: ›Jetzt erzähle ich dir, wie es war, als ich und meine Brüder klein waren.‹ Dass ihr Vater siemit dem Stock schlug und dass er mit neun Jahren was verkaufen musste, um zu überleben, und wir dagegen immer schon alles hatten. Aber wenn er dich fragt: Hat dir je etwas gefehlt?, darf man die Frage nicht mit Ja beantworten. Warum macht er das wohl? Weil er sich ja nur absichern will? Tut mir leid, dass ich dir das sagen muss. Tut mir wirklich leid.
Sein Bruder Angelo versuchte weiter ihn zu besänftigen. »Tragen in der Familie nicht alle eine Schuld? Sogar die Mutter? Die nie den Mut hatte zu sagen: Das passt mir nicht, lass uns das anders machen? Mussten nicht alle in der Familie die Konsequenzen ertragen?«
Paolo jedoch blieb unbeeindruckt.
Sicher trägt jeder auch seine persönliche Verantwortung. Wir können ja das Schicksal dafür verantwortlich machen oder den Willen Gottes. Tatsache aber ist, dass wir eine ganze Reihe von Situationen ertragen haben und auch weiterhin ertragen. Es ist sinnlos zu rebellieren, wenn es nur darum geht, das Kreuz etwas bequemer zu tragen. Ich habe das noch nie zu jemandem gesagt, aber wie viele haben gemerkt, dass es schlimmer war, so zu leben wie wir, als wenn ein Vater tot ist. Wir erleben absurde Dinge, Angelo. Oder ich bin absurd. Keine Ahnung, aber manchmal möchte ich das wissen. Ich möchte endlich anfangen zu verstehen, wie das Leben läuft – und ob es so weiterläuft.
Und Angelo antwortete: »Wenn wir aufwachen und verstanden haben werden, wie das Leben läuft, sind wir beide siebzig, Paolo. Und dann wird es zu spät sein.«
Die beiden Provenzano-Söhne befolgen die Regeln der Mafia, so wie sich manche Kinder den Erfordernissen des anspruchsvollen und zeitaufreibenden Berufes ihrer Väter unterordnen. Väter, die abwesend sind und die dennoch den Alltag der Familie bestimmen. Väter, deren Verpflichtungen nicht in Frage gestellt werden dürfen, Väter, die man auf Empfänge und Stehpartys begleiten muss, obwohl man sich dabei langweilt. Weil diese Väter Wert darauf legen, ihren Arbeitskollegen ein einwandfreies Familienleben vorzuführen. So wie Bernardo Provenzano, der offenbar stets von seinen Söhnen erwartete, dass sie ihn in seinem Versteck besuchten.
Ob die beiden Söhne anfingen zu verstehen, wie das Leben läuft, als sie im Jahr 1 992 zusammen mit ihrer Mutter überraschend wieder in ihre Heimatstadt Corleone zurückkehrten? Da waren sie sechzehn und neun Jahre und die Cosa Nostra kämpfte um ihr Überleben. Bernardo Provenzano und Totò Riina blieb nicht viel Zeit für ein Familienleben – jenen beiden Mafiabossen aus Corleone, die in dem blutigen Mafiakrieg Anfang der achtziger Jahre die Herrschaft über die Cosa Nostra eroberten, die traditionell stets in der Hand der Bosse aus Palermo gelegen hatte. Da waren die Gegner der Corleonesen entweder tot. Oder in Amerika untergetaucht.
Ihre Feinde waren andere – die beiden Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Die der Cosa Nostra nicht hinterherliefen, sondern sie in Echtzeit verfolgten. Falcone und Borsellino hatten nicht nur genau registriert, wie sich die Mafia dank der Manipulation öffentlicher Ausschreibungen ein neues Wirtschaftsfeld geschaffen hatte. Die beiden Staatsanwälte hatten überdies 1986 den Maxiprozess gegen die Bosse der Cosa Nostra eingeleitet. Dann fiel auch noch die Mauer, und nichts warin Italien mehr so, wie es die Cosa Nostra in den vier Jahrzehnten seit Kriegsende gewöhnt war. Die christdemokratische Partei, der bewährte Geschäftspartner der sizilianischen Mafia, begann sich aufzulösen, nachdem über Nacht ihr Feindbild abhandengekommen war. Sie konnte sich nicht mehr als Bollwerk gegen den Kommunismus behaupten – unterstützt von den Amerikanern, die die kommunistische Partei Italiens stets als Moskauer Zecke im westlichen Fell bekämpft hatten. Das alte Parteiensystem Italiens brach zusammen. In Mailand tobte der Korruptionsskandal » Mani Pulite «,
Weitere Kostenlose Bücher