Von Kamen nach Corleone
»Ah, Brusca«, sagte er. Natürlich seien die Brüder für ihre Vergehen zu tadeln. Er kenne sie doch von Kindesbeinen an, oft hätten sie als Ministranten die Altarschellen geschwenkt, Emanuele, der Älteste, sei sogar Seminarist gewesen. Jeden Abend sei er bei ihm im Pfarrhaus zusammen mit den anderen Jugendlichen der Azione Cattolica gewesen, einmal im Mai habe er sogar das Motto der Predigt lesen dürfen. Und der Vater, Bernardo Brusca, er sei nicht so ruchlos gewesen, wie alle immer behaupten, eherbesänftigend. Für die Mutter sei es selbstverständlich ein Drama gewesen, als ihr Sohn Giovanni vor Gericht gestand, den kleinen Giuseppe di Matteo umgebracht zu haben. »Aber ist nicht der Staat heute den drei Brusca-Brüdern gegenüber zu nachsichtig? Zu großherzig? Nur weil sie aussagten? Ist nicht die Denunziation die größte Sünde?«
Die Mutter besuche die Frühmesse und die Abendmesse, Tag für Tag. Und weine sich die Augen aus dem Kopf. Sie habe doch niemanden mehr, außer drei Söhnen, die zu Abtrünnigen geworden seien. Sie leide, sagte Don Giglio, aber sie gebe sich Gottes Willen hin: »Ich bin in den Händen Gottes, ich habe den Glauben«, habe sie gesagt. Was könne man mehr von ihr verlangen? Don Giglio stand ihr in der schweren Stunde bei. Und zeigte sich keineswegs darüber erstaunt, dass der Mutter kein Wort des Bedauerns für die Morde ihrer Söhne über die Lippen gekommen war.
Dann schloss er sein Schatzkästlein wieder ab und trat auf die Straße. Er war zum Mittagessen mit Mailänder Freunden verabredet; die Trattoria war geschlossen, aber zwei Frauen aus der Gemeinde hätten sich bereit erklärt, für den Pfarrer und seine Gäste zu kochen. »Die Gemeinde«, sagte er, »ist meine Familie.« Wobei festzuhalten sei, dass es auch in Sizilien bereits Gemeinden gebe, in denen der Glaube schwach und die Ehrerbietung gegenüber dem Pfarrer zu wünschen übrig lasse. Verächtlich schnalzte er mit der Zunge. Dann eilte er über die kleine Piazza vor seiner Kirche, die frisch getüncht in den sizilianischen Himmel strebte. Nirgendwo anders wolle er Pfarrer sein. Denn nur hier, in San Giuseppe Jato liege noch Respekt in der Luft.
Als ich am nächsten Morgen Rom verlasse, ist die Stadt in rosa Dunst gehüllt, ein Gespinst, das sich unter der Morgensonne langsam auflöst. Es ist jene Uhrzeit, während der Rom noch sich selbst gehört und nicht den gepanzerten Lancias der Parlamentarier. Keine Vespaschwärme, keine Sekretärinnen in kurzen Röcken, keine Kofferträger in Nadelstreifenanzügen, keine überfüllten Busse. Rom sieht aus wie auf Piranesis Kupferstichen, im Vorbeifahren bewundere ich die Anmut des Tempels von Vesta, die Säulenordnung des Forum Romanum, die Mauern des Teatro Marcello, bis ich schließlich die Randbezirke erreiche, da, wo die Stadt ausfranst, wo die Neubauten so seelenlos sind wie überall auf der Welt. In diesem Niemandsland habe ich Emanuele Brusca getroffen, den ältesten Sohn der Mafiafamilie Brusca.
Es war nicht seine Wohnung, es war nicht seine Stadt. Es war irgendwo, in irgendeiner Wohnung, die vom Innenministerium angemietet worden war, für Mafiaaussteiger. Der Tisch, an dem wir saßen, hatte abgestoßene Ecken, die Sessel waren durchgesessen, und die Luft roch verbraucht, als hätte noch wenige Stunden zuvor eine vierköpfige Familie hier gelebt und die Wohnung überstürzt verlassen. Und vielleicht war das auch so. Servizio protezione, so heißt die Abteilung des römischen Innenministeriums, die sich um abtrünnige Mafiosi und ihre Familienangehörigen kümmert. Die unter fremdem Namen irgendwo in Italien ein neues Leben aufzubauen versuchen. Fern vom Planeten Mafia, auf dem sie ihr ganzes Leben verbracht haben, reich und geachtet. Manchmal müssen sie über Nacht ihre falsche Existenz aufgeben und sich an einem anderen Ort eine neue aufbauen, nur weil sie jemand beim Einkaufen länger als üblich angesehen hat.
Wenige Tage zuvor hatte ich erfahren, dass meinem vorMonaten beim römischen Innenministerium gestellten Antrag, Emanuele Brusca zu treffen, stattgegeben worden war. Ein Polizist hatte mich angerufen, ohne seinen Namen zu nennen, und mich gebeten, nach Rom zu kommen. Nein, eine Adresse könne er mir noch nicht sagen. Er gab mir nur eine Telefonnummer. Die sollte ich anrufen, sobald ich in Rom gelandet sei. Als ich die Nummer anrief, sagte man mir, ich solle ein Taxi nehmen, gleich würde mich wieder jemand anrufen und mir die Adresse
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