Von Kamen nach Corleone
Emanuele Brusca jedoch klang, als würde er über die Herrschaft eines guten, aber doch strengen Königs sprechen. So wie es der Mafiawelt entspricht. Der gerechte König in seinem Reich, jovial, freigiebig, selbstlos. Dahinter verbirgt sich die Tatsache, dass die Mafia ohne den sozialen Konsens nicht leben kann. »Wir leben vom Volk«, sagte der Mafioso Antonio Rotolo einmal am Telefon zu einem anderen Boss. »Zuallererst muss man die kleinen Leute aus dem Stadtviertel respektieren. Du darfst nicht gefürchtet werden, sie müssen dich mögen, das ist etwas ganz anderes. Denn der Respekt ist die eine Sache, die Untertänigkeit eine andere: Kaum drehst du den Rücken, nutzt einer die Gelegenheit für einen Dolchstoß.«
Auch die Frau von Vittorio Mangano, dem Mafioso, der als Stallmeister auf Berlusconis Anwesen gelebt hatte, hat die Mafia mal als »Lebensstil« bezeichnet, als ich sie fragte, was das Wort »Mafia« für sie bedeute. Ebenso die Frauen von San Luca. Ganz so, als entspräche der »Lebensstil Mafia« anderen Lebensstilen, etwa auf dem Land zu leben oder keine Kinder zu haben oder viel Sport zu treiben. Als wäre es ein Lebensstil, wenn man sich einer Gemeinschaft anschließt, die ihr Leben damit bestreitet, zu morden, zu erpressen, zu betrügen, zu terrorisieren. Die Lüge mit dem »Lebensstil« ist fester Bestandteil der Mafiapropaganda.Damit will sie den Eindruck erwecken, als handele es sich um eine Kultur. Denn eine Kultur ist nicht justiziabel.
Als hätte Emanuele Brusca meine Gedanken gelesen, sagte er nun zu mir: »Wachsen Sie mal in dieser Atmosphäre auf und sagen Sie mir dann, was es für Möglichkeiten gibt, dem zu entkommen!«, und blickte mich vorwurfsvoll an.
»Aber fanden Sie es normal, wenn Ihre Familie mit Geschenken überhäuft wurde?«, fragte ich.
»Ich könnte jetzt sagen: Mein Vater hatte eben viele Freunde ... «, sagte Emanuele Brusca. Und lächelte wehmütig.
Mit der Zeit habe er begriffen. Nicht zuletzt nachdem er selbst in die Mafia aufgenommen worden war. Mit siebenundzwanzig Jahren. Gegen seinen Willen. Was ihn von den meisten jungen Männern im Umkreis der Mafia unterscheidet, die davon träumen, endlich dazuzugehören. Auch sein Bruder Giovanni und sein Vater seien dagegen gewesen, ihn aufzunehmen. Weil sie ihm eine andere Zukunft gewünscht hätten. Dass er studieren würde, um einen guten Beruf zu ergreifen. Aber es habe Personen gegeben, die darauf gedrängt hatten, ihn aufzunehmen. Nicht weil sie ihn für besonders fähig gehalten hatten, sondern weil er sonst gestört hätte. Wenn es im Hause Brusca zu Treffen von »Ehrenmännern« kam, sei er stets freundlich auf gefordert worden zu verschwinden.
Weil er gegen seinen Willen aufgenommen worden war, klang Emanuele Brusca anders als die anderen Abtrünnigen, denen ich begegnet bin. Bei ihnen hatte ich den Schmerz der Entzauberung gehört, jenen Phantomschmerz, der sie nie mehr losließ. Sie alle hatten wie enttäuschte Liebende geklungen, die den Schmerz der Verlassenheit damit zu lindern versuchten, indem sie sich immer wieder jenen magischen Augenblick beschworen, als sie endlich erhörtworden waren. Als sie endlich den Blutstropfen auf das Heiligenbild träufeln und schwören konnten, zu Asche zu brennen wie dieses Heiligenbildchen, wenn sie die Cosa Nostra jemals verraten würden. Emanuele Brusca aber war gegen seinen Willen mit der Mafia verheiratet worden.
Sein Vater habe vergeblich darauf hingewiesen, dass sein Sohn Emanuele keine Mutprobe hinter sich habe. Er habe darauf hingewiesen, dass er dem Druck vielleicht nicht standhalten würde. Aber selbst das habe seine Aufnahme nicht verhindert, im Gegenteil, um ihn aufzunehmen, wurde das Prozedere sogar leicht abgewandelt: Er habe keine einzige Mutprobe ablegen müssen, keinen Mord begehen müssen, nichts. Es habe genügt, der »Sohn von« zu sein. Und als er aufgenommen gewesen sei – ja, was hätte er tun sollen? Seinen Vater und seinen Bruder anzeigen? Seine Verwandten verraten? Seine Freunde ausliefern? Sich umbringen lassen? »Es gab keine Möglichkeit, sich der Aufnahme zu widersetzen«, sagte Emanuele Brusca. »Mein einziger Ausweg war das Schweigen.«
Die Personen, die darauf gedrängt hatten, dass Emanuele Brusca in die Mafia aufgenommen wurde, waren der Boss Totò Riina und seine Männer. Dank seines Vaters blieb Emanueles Aufnahme riservata, vorbehalten. Was bedeutete, dass nur die Mitglieder seiner engsten Mafiafamilie von seiner Aufnahme
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