Von Kamen nach Corleone
durchgeben.
So war ich in diese abgewohnte Wohnung am Rande von Rom gelangt, wo ich inmitten von Polizisten auf Emanuele Brusca wartete und bemerkte, dass die Tapete im Wohnzimmer an einer Stelle Stockflecken hatte und unter dem Schrank ein Knopf lag. Die Wände waren so dünn, dass man das Gefühl hatte, die Niagarafälle zu hören, wenn jemand in der Wohnung darüber die Wasserspülung betätigte. Was für einen Abstieg muss ein Leben in einer solch armselig möblierten Behausung für jene Mafiafamilien darstellen, die an ein Leben mit goldenen Wasserhähnen und Marmor aus Carrara gewöhnt waren. Und daran, dass sich ihnen alle Türen öffneten, wenn sie nur die Augen aufschlugen.
Als Emanuele Brusca schließlich die Wohnung betrat, war es, als würde das Haus von einem Rollkommando gestürmt. Fünf Polizisten begleiteten ihn, im Laufschritt, dicht an ihn gedrängt, lebende Kugelfänger. Und dann stand er vor mir, ein rundköpfiger Mann in einem Pfefferund-Salz-Jackett. Sein Körper war füllig und sein Gesicht so konturlos weich, dass er mit jeder Menschenmenge hätte verschmelzen können. Niemand hätte ihm seine Vergangenheit angesehen, seine Geschichte als Expriesterseminarist, Exmedizinstudent, Exmafioso. Nur wenn er sprach,spürte man die Distanz, die immer noch zwischen ihm und der Welt lag. Als würde er sich immer noch dem auserwählten Volk zugehörig fühlen, als sei er immer noch von der Distanz eines Ehrenmannes getragen. Eines, der in Andeutungen spricht. Der seine Botschaften in die Pausen zwischen den Sätzen legt. Und der einst daran gewohnt war, dass man ihn mit Vossia begrüßte, Euer Ehren.
In seinen Augen lag Schwermut. Die wurde er nicht mehr los, selbst dann nicht, wenn er ein paar Witze mit den Polizisten machte, die ihn begleiten mussten, wenn er für ein paar Stunden in sein altes Leben zurückkehrte – wenn er im Gerichtssaal den Staatsanwälten erklärte, wie es war, als er für seinen Vater Botengänge unternahm, zu Mafiabossen und Rechtsanwälten, zu Abgeordneten und zu Finanzgrößen. Wie es war, als er von dem Treffen zwischen Giulio Andreotti und dem Boss Totò Riina erfuhr. Wenn er den Staatsanwälten wieder mal bestätigte, dass sein kleiner Bruder Giovanni die Wahrheit, die Wahrheit, nichts anderes als die Wahrheit sagt.
Emanuele Brusca quälte sich in langen Pausen durch seine Vergangenheit. Durch jenes Leben, in dem er als Diplomat der Mafia tätig war. Kein Blut, kein Mord, nur Botschaften. Emanuele Brusca unternahm die Botengänge zu den Abgeordneten, die als Statthalter Andreottis in Sizilien galten: dem Abgeordneten Salvo Lima und den Brüdern Ignazio und Nino Salvo, den Steuereintreibern auf Sizilien.
Für das Blut war sein jüngerer Bruder Giovanni zuständig – ein halber Analphabet, dem erst ein Rechtsterrorist im Gefängnis Lesen und Schreiben beibrachte. Giovanni war es, der die dreihundertfünfzig Kilo Sprengstoff für das Attentat auf den Richter Falcone vorbereitete – in Waschpulvertonnen verpackt und in ein Abflussrohr unter dieAutobahn geschoben. Er war es auch, der den Knopf der Fernbedienung drückte – für die Bombe, die den Richter, seine Frau und die fünf Leibwächter zerfetzte. Emanuele Brusca hingegen wurde u dutturi genannt, das Doktorchen. Bis er sechzehn Jahre alt war, besuchte er das Priesterseminar von Monreale. Dann entschied er sich dagegen, Priester zu werden und besuchte das Seminar weiter als Externer bis zum Abitur.
Hinter Emanuele Brusca lagen zwei Generationen Mafia. Sein Großvater Emanuele war Boss der ersten Stunde nach dem Fall des Faschismus gewesen. Sein Vater Bernardo war der treueste Verbündete der Corleonesen, des Clans um Totò Riina. Sein Bruder Giovanni war il mostro , das Ungeheuer. Der zugab, »mehr als 1 50, weniger als 200« Menschen umgebracht zu haben, erschossen, in die Luft gesprengt oder mit einem dünnen Nylonseil erdrosselt. Und der Wert darauf legte, beim Auflösen der Leichen in Salzsäure nie Handschuhe getragen zu haben. Der jüngste Bruder Vincenzo war Giovannis rechte Hand.
Die Brüder Brusca zählen bis heute zu den wichtigsten Mafiaabtrünnigen Italiens: Sie waren lange Zeit die einzigen direkten Verbündeten des Bosses Totò Riinas, die sich zur Aussage entschlossen hatten. Giovanni Brusca war der erste Boss unter den abtrünnigen Mafiosi der Corleonesi gewesen, capomandamento , Boss von drei Mafiafamilien, ganz oben in der Hierarchie. Bis dahin waren alle anderen Reuigen nur einfache Soldaten
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