Von Kamen nach Corleone
Antimafiadokument des Vatikans, sondern nur vereinzelte, mutige Priester und Bischöfe.
Die letzte offizielle Stellungnahme der katholischen Kirche war der italienische Bischofsbrief vom März 20 10, in dem die italienischen Bischöfe die Menschen in Süditalien aufriefen, sich von den »Fesseln der Mafia« zu befreien. Ein frommer Wunsch. Der so klingt, als hätte keiner der italienischen Bischöfe jemals einen Fuß nach Süditalien gesetzt. Wie sollen die Menschen den Mut haben, sich von den »Fesseln der Mafia« zu befreien, wenn der Papst nicht einmal den Mut hat, das Wort »Mafia« zu benutzen, geschweigedenn sie zu verdammen? Wenn die Priester, die unter Einsatz ihres Lebens gegen die Mafia gekämpft haben, isoliert waren, so wie Padre Puglisi, in Palermo oder Don Diana in Casal di Principe? Und wenn viele Priester in Süditalien immer noch kein Vergehen darin sehen, flüchtigen Mafiosi in ihren Verstecken die Beichte abzunehmen?
Seit ihrem Bestehen hat die Mafia die katholischen Werte für sich vereinnahmt. Und pervertiert. Anders als die kommunistische Partei ahnte sie, dass sie keine Zukunft haben würde, wenn sie die Macht der katholischen Kirche in Frage stellte. Also geben sich die Bosse bis zum heutigen Tag gottesfürchtig, machen der Kirche Geschenke und reklamieren das Privileg, bei der Prozession den Heiligen zu tragen – weniger aus Frömmigkeit, sondern weil sich an der Prozessionsordnung die Machtverteilung im Dorf ablesen lässt.
Natürlich gibt es auch kritische Stimmen. In Sizilien etwa die des Bischofs von Mazara del Vallo, Monsignor Mogavero, in der Nähe von Trapani, der die Priester ermunterte, gegen den Wucher zu kämpfen, gegen das Schutzgeld, gegen die Bestechlichkeit der Lokalpolitiker; der Bischof forderte die Priester sogar auf, das Geld der Mafiosi für religiöse Volksfeste abzulehnen. Oder der Bischof von Agrigent, Francesco Montenegro, der selbstkritisch sagte: »Manchmal fehlt uns der Mut. Wir schließen uns in den Kirchen ein und machen uns die Schuhe nicht in den Straßen schmutzig. Dabei sollten wir uns darin engagieren, christliche Gemeinschaften aufzubauen, die gegen die Resignation kämpfen, gegen die Gewalt, gegen den Wucher, gegen die Schutzgelder, gegen die Schwarzarbeit!«
Der Bischof schlug vor, jedes religiöse Volksfest in Ortenzu verbieten, in denen Mafiamorde begangen wurden. Und Monsignor Luigi Renzo, der Bischof in der kalabrischen Stadt Mileto kündigte an, Mafiosi von religiösen Volksfesten auszuschließen. Aber als Don Franco Fragalà, der Pfarrer des kalabrischen Dorfes Sant’Onofrio, im April 2010 den Mut hatte, die Aufforderung seines Bischofs in die Tat umzusetzen, und den Bossen verbot, die Christusstatue bei der Osterprozession zu tragen, schickte man ihm einen Briefumschlag mit dreißig Patronen vom Kaliber 38. Die Prozession wurde daraufhin verschoben. Und fand eine Woche später unter Polizeischutz statt.
Im Schatten des Vatikans muss ich an meine Begegnung mit Don Onofrio Giglio denken, dem Pfarrer der sizilianischen Mafiafestung San Giuseppe Jato, hoch auf jenen Bergen, von denen man auf Palermo herabblickt. In San Giuseppe Jato erlaubten sich weder Straßen noch Häuser ein Abweichen von der geraden Linie. Aus den Fenstern wehten stahlblaue Fliegenvorhänge, Plastikrohre endeten im Nichts, Stromkabel verirrten sich auf bröckelndem Putz, aber daneben funkelte ein Neubau aus Carraramarmor, glänzend wie ein Mausoleum. In diesen Häusern hatten die Brüder Brusca gelebt – Giovanni, Enzo und Emanuele – allesamt kaltblütige und gehorsame Diener der Cosa Nostra. Söhne einer alten sizilianischen Mafiafamilie, engste Verbündete des Bosses Totò Riina. Als Kinder waren die Brüder Brusca Messdiener, und Don Giglio hatte ihnen über das Haar gestrichen.
Als ich zum ersten Mal nach San Giuseppe Jato kam, hatte ich auf der Piazza mit einigen jungen Mädchen gesprochen, die unweit der Bar in kleinen Grüppchen herumstanden und ihre Invicta-Rucksäcke mit Herzen bemalten. Damals waren die Brüder Brusca noch nicht verhaftet worden, sondern noch untergetaucht. Und die jungenMädchen aus San Giuseppe Jato schwärmten von den Bossen wie von Filmstars: »Sie sind besser als alle anderen«, sagten sie. Sie schwärmten von ihnen, obwohl sie wussten, dass Giovanni Brusca es war, der auf den Knopf der Fernbedienung gedrückt hatte – jener Fernbedienung für die Bombe, die Staatsanwalt Giovanni Falcone, seine Frau und fünf Leibwächter
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