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Von Kamen nach Corleone

Von Kamen nach Corleone

Titel: Von Kamen nach Corleone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reski Petra
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gewesen, die Brusca als einfache Soldaten unterstellt waren.
    Weshalb Brusca zum Abtrünnigen wurde? Vielleicht bereute er. Vielleicht fühlte er sich verraten. Vielleicht hoffte er auf Hafterleichterung. Auf ein anderes Leben. Vielleicht. Anfangs sagte er nicht die ganze Wahrheit. Er versuchte einige Bosse zu schützen. Bis er sich entschloss,endgültig die Brücke zur Vergangenheit abzubrechen, vergingen Jahre. Nachdem er diesen Schritt gewagt hatte, tat es ihm sein jüngerer Bruder Vincenzo gleich. Obwohl dieser formal nie von der Mafia aufgenommen worden war.
    Als Emanuele Brusca erfuhr, dass sein Bruder Giovanni auf die andere Seite wechseln wollte, schrieb er ihm einen Brief. Er ermahnte ihn, alles zu sagen. Alles. Die ganze Wahrheit. Emanuele Brusca hatte in jenem Moment bereits den größten Teil seiner fünfjährigen Hochsicherheitshaft hinter sich, zu der ihn die Richter wegen Mafiazugehörigkeit verurteilt hatten. Wegen guter Führung durfte er das Gefängnis ein Jahr früher verlassen. Bis heute ist er formal kein Mitarbeiter der Justiz, wie die abtrünnigen Mafiosi genannt werden, die für ihre Aussagen mit Hafterleichterung belohnt werden. Er saß seine Strafe ab, darauf legte er Wert. Er legte auch Wert darauf, zu betonen, dass er sich von seinem abtrünnigen Bruder hätte lossagen können. Aber er wollte zeigen, dass er dessen Entscheidung zu sprechen mittrug. Als Blutsverwandter zweier Abtrünniger steht er unter Polizeischutz und bekam eine neue Identität.
    Nach San Giuseppe Jato, wo sie aufgewachsen sind, werden die Brüder nie mehr zurückkehren. Nicht mal zu der Beerdigung ihres Vaters hätten sie gehen können. Der sich zu seinen reuigen Söhnen nur ein einziges Mal äußerte. Er sagte nicht viel. Er sagte nur: »Meine Söhne sagen immer die Wahrheit.« Sich auf das gesprochene Wort verlassen zu können ist allerdings weniger eine Charakterstärke als eine Überlebensnotwendigkeit der Cosa Nostra, die über keine schriftlichen Aufzeichnungen verfügt. Es gilt das Wort eines Ehrenmannes.
    Weder sein Vater noch seine Mutter hätten ein Urteil über ihre Söhne abgegeben, die sich für einen anderen Weg entschieden haben, für den Weg, mit der Justiz zusammenzuarbeiten,sagte Emanuele Brusca. Er habe viele Leute gesehen, die in solchen Momenten ihre Söhne verstoßen haben. Das sei in seiner Familie nicht so gewesen. Also werde das wohl eine Bedeutung haben.
    Vielleicht habe sich die ganze Familie von der Mafia befreit? Selbst sein Vater, auch wenn er es nicht zugab?
    Sein Vater habe nie bereut, jedenfalls nicht vor der Justiz. Aber er sei davon überzeugt, dass sein Vater tief in seinem Innersten seine Taten bereut habe – und dass er Gott wahrscheinlich um Vergebung gebeten habe. Es sei nicht seine Art gewesen, im Gerichtssaal Zeugnis abzulegen, anzuklagen, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Er habe seine Strafe im Hochsicherheitsgefängnis von Pianosa verbüßt. In der Spezialhaft für Mafiabosse, wo er dann einsam gestorben sei.
    Er habe stets großen Respekt vor seinem Vater gehabt, sagte Emanuele Brusca. Als Vater sei er ein sehr ausgeglichener Mensch gewesen. Und draußen – das sei eben eine andere Welt gewesen. Nie habe er seinem Vater eine Schuld zugewiesen. In seiner Familie sei es so natürlich gewesen, von der Mafia zu leben, wie zu atmen. Und das seit mehreren Generationen. Eigentlich merke man es gar nicht. Es sei ein Lebensstil, eine ganz natürliche Kindheit, ein ganz normales Leben gewesen. Eine Kindheit ohne Alternativen. Jeder im Dorf habe gewusst, dass die Bruscas zur Mafia gehörten. Und jeder habe sich darum gerissen, ihn zum Abendessen oder Mittagessen einzuladen.
    Deshalb habe er nur wenige Freunde gehabt. Weil er nie gewusst habe, ob der, der ihn einlud, ihn wirklich mochte. Oder ob er nur heuchelte, weil er eine Empfehlung von Bruscas Vater brauchte, eine Gefälligkeit, eine Fürsprache, eine Referenz. An Weihnachten sei das Haus stets vor Präsentkörben übergequollen, sodass seine Familie gar nichtmehr wusste, wohin mit den Geschenken. Und sein Vater habe immer betont, dass es ein Unterschied sei, gefürchtet zu werden oder respektiert. Er habe respektiert werden wollen, nicht gefürchtet.
    Wie pervers es doch ist, wenn ein Mörder auch noch um seiner selbst willen geachtet werden will, dachte ich, während Emanuele Brusca seinen Vater rühmte. Auch wenn ein Massenmörder ein guter Vater ist, ändert das nichts daran, dass er vor allem ein Massenmörder ist.

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