Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
anschließend, ob Notrufe nicht sowieso kostenlos sind, und komme zu dem Schluss, dass ich mich eigentlich ganz gut fühle. Mir ist nur ziemlich warm. Also mache mich auf den Heimweg.
Ich bin noch nicht lange unterwegs, als hinter mir ein Klingeln ertönt. Es ist Herr Langlöffler mit seinem gelben Postfahrrad. Seine verlängerte Stirn glänzt im Sonnenschein. Er klingelt noch einmal und winkt – wie jedes Mal, wenn er mich sieht. Ich will ihn ignorieren und einfach weitergehen, schließlich war er es, der uns beim Wüstenwurm in eine Falle gelockt hat, doch ich erinnere mich gerade noch rechtzeitig daran, dass das alles ja nur in meinem Kopf geschehen ist.
„Guten Morgen, Dodo!“, grüßt Herr Langlöffler und kommt neben mir zum Stehen.
Ich übergehe die Begrüßung, was sonst gar nicht meine Art ist, und frage: „Sie wissen nicht zufällig, wie spät es ist?“
Herr Langlöffler sieht mich verdattert an, fängt sich aber recht schnell. „Aber selbstverständlich. Pünktlichkeit ist für einen Postboten das A und O!“ Er schiebt den Ärmel seiner Uniform zurück und runzelt die Stirn. „Schon kurz nach drei Uhr. Dachte nicht, dass es schon so spät ist.“
Ich rechne. Um elf Uhr elf kam der Anruf. „Und heute ist Montag, richtig?“
Herr Langlöffler nickt. „Ja, ja, Montag.“ Schweißtropfen laufen über seine Schläfen. Er scheint mit seinen Gedanken ebenfalls woanders zu sein.
„Dann war ich fast vier Stunden lang weg“, murmele ich.
„Ja, ja, die Zeit vergeht wie im Fluge“, entgegnet Herr Langlöffler abwesend. „Besonders wenn man noch jung ist.“
„Hmh“, mache ich, weil mir auf die Schnelle nichts anderes einfällt.
„Wie geht es deiner Omi?“, wechselt er das Thema. „Hat Sie immer noch solche Magenbeschwerden?“
„Seitdem Strom-Klaus nicht mehr in ihrem Bauch hockt, ist alles wieder gutgut“, antworte ich gedankenversunken.
Herr Langlöffler nickt, als würde das durchaus Sinn ergeben. Vielleicht ist er als Briefträger noch ganz andere Geschichten gewohnt. Vielleicht hört er mir auch einfach nicht zu.
„Sie haben ein Paket für meine Omi“, sage ich zum einen, um die unangenehme Stille zu verscheuchen, zum anderen, um zu überprüfen, ob man mit Hilfe von Sonnenstichen möglicherweise in die Zukunft sehen kann.
„Nein, für deine Omi hab ich heute nichts dabei“, enttäuscht mich Herr Langlöffler. „Aber für dich.“ Er öffnet die große Posttasche an seinem Fahrradlenker und holt ein braunes Päckchen hervor. „Bitte sehr.“
„Von wem ist das?“, frage ich und betrachte das braune Packpapier.
„Steht denn kein Absender drauf?“
„Nein.“
„Dann weiß ich es auch nicht.“ Er lächelt unverbindlich. „Wenn du es aufgemacht hast, bist du sicher schlauer.“
Ich schüttele das Päckchen in der Hoffnung auf ein verräterisches Geräusch, doch es klötert nur unbestimmt.
„Ich muss dann auch wieder“, verkündet Herr Langlöffler und bringt seine Pedale in Stellung. „Mach‘s gut, Dodo. Und pass auf dich auf!“
„Mach ich, Herr Langlöffler. Sie auch.“
Er nickt ein letztes Mal, wischt sich über die Stirn und fährt davon.
Happy End mit Hindernissen
Schon von weitem sehe ich, dass an Omis Haus etwas nicht stimmt. Über der Tür hängt etwas, das sich beim Näherkommen als bunte Girlanden herausstellt. Als würde jemand eine Party geben. In Gedanken gehe ich die Tage durch, die bei uns zu Hause gefeiert werden – Omis Geburtstag, mein Geburtstag, Weihnachten und Neujahr –, und komme zu dem Schluss, dass heute keiner davon ist. Der Rest der Straße sieht aus wie immer. Die schmalen Rasenstücke sind gemäht, die Hecken sind gestutzt und keines der Häuser wird durch einen meterhohen Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtkrone halbiert. Alles ist wieder beim Alten.
Ich öffne das Jägerzauntor, gehe die drei Stufen zur Haustür hinauf und suche in meinen Hosentaschen nach meinem Schlüssel, obwohl ich doch bereits in der Telefonzelle festgestellt habe, dass meine Taschen leer sind. Wahrscheinlich liegen sie am Straßenrand im Staub – die Schlüssel natürlich, nicht die Taschen. Zu meiner Überraschung öffnet sich die Haustür, noch bevor ich die Klingel betätigt habe.
Ich atme einige Male tief durch, während ich den Mann im Türrahmen entgeistert anglotze, weil mein Gehirn gerade offensichtlich nicht genug Sauerstoff bekommt. Vielleicht sind es auch die Spätfolgen des Sonnenstichs. Fest steht zumindest, dass es auch nach einigen
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