Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
lebst!“
„Natürlich tue ich das“, nuschelt Omi in meine Schulter.
Ihre grauen Locken sind frisch frisiert. Ihre Hände riechen nach Erdbeere. Es gibt keinen Zweifel. Es ist meine Omi.
Es dauert lange, bis es mir gelingt, sie wieder loszulassen. Um genau zu sein so lange, bis Manfred schnaufend verkündet, mich auf gar keinen Fall auch nur eine Sekunde länger halten zu können.
„Wie kommt ihr alle hierher?“, stelle ich die Frage, die mir gerade am wichtigsten erscheint.
„Wie wir hierher kommen?“, fragt Omi zurück. Das Unverständnis drückt tiefe Falten in ihr kleines Gesicht.
„Er kann sich an nichts erinnern“, bringt sich die Statue am Fenster ein, die mich von Anfang an irritiert an, weil dort noch nie eine Statue gestanden hat.
„Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?“, fragt Agerian.
Ich denke nach, was sich durch die weiterhin durch meinen Kopf surrenden Fragen als recht schwierig herausstellt. „Wir … wir waren in dieser Höhle und der … der Kraken-Orang-Utan hat mich angegriffen.“
„Das heißt, dir fehlen die vergangenen fünf Tage – die kompletten fünf Bände!“, fasst Agerian zusammen.
„Fünf Bände?“, frage ich, doch plötzlich drängelt sich ein anderer Gedanke hinter meine Stirn. „Aber ich … ich war tot! Das hast du selbst gesagt. Ich bin gestorben!“
„Nicht nur einmal, mein Freund. Nicht nur einmal …“ Er lächelt.
„Mach dir keine Sorgen, du wirst dich schon bald wieder an alles erinnern“, versucht Elenor mich zu beruhigen. „Das war die letzten Male genauso.“
„Welche letzten Male denn?“, frage ich.
„Dodo, du bist unsterblich“, sagt Elenor. Und um sicherzugehen, dass ich es auch wirklich verstehe, fügt sie hinzu: „Du kannst nicht sterben. Du wachst immer wieder auf.“
Ich überlege, öffne meinen Mund und schließe ihn wieder. Dies wiederhole ich einige Male, bis schließlich ein „Warum?“ herausplumpst.
Auf einmal ist es sehr still in Omis Wohnzimmer.
„Oh, hauahauaha …“, murmelt Manfred.
Sonst sagt niemand etwas. Jeder scheint irgendwie peinlich berührt zu sein, aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein.
„Wichtig ist erst mal nur, dass wir es geschafft haben“, bricht Elenor das Schweigen. „Du hast uns alle gerettet, Dodo. Deine Omi, Tante Hablieblieb, Manfred und mich. Und dann haben wir gemeinsam den Chef besiegt und seine unterirdische Festung zerstört.“
„Das war vielleicht ein Feuerwerk!“, grölt Manfred und stößt auf.
„Wann ist das alles denn passiert?“, frage ich.
„Na, in der letzten Woche“, entgegnet Agerian. „Schade, dass du dich an gar nichts mehr erinnerst. Es war wirklich einiges los.“
„Aber das wirklich Wichtige ist“, übernimmt wieder Elenor, „dass wir gewonnen haben. Verstehst du, was ich sage, Dodo? Alles ist wieder gutgut.“
Ich verstehe es nicht. Ich verstehe überhaupt nichts von alldem. Doch wenn ich in Elenors Augen sehe, spüre ich, dass es stimmt. Das spüre ich ganz deutlich. Also nicke ich, und Elenor sieht auf einmal irgendwie erleichtert aus.
„Ich habe extra für dich Kamillenkuchen gebacken“, sagt Omi. „Mit Sahne.“
„Danke, Omi“, sage ich. „Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.“
„Ach, mein Junge …“
Auf der Straße röhrt ein Motor auf, als wäre die Formel 1 zu Besuch in unserem Dorf, und verstummt gleich darauf in quietschenden Reifen, die wiederum eher an Fingernägel auf einer Kreidetafel erinnern. Den Abschluss bildet ein mehrteiliger hölzerner Knall, der mich unwillkürlich an Omis Jägerzaun denken lässt.
„Was ist denn da draußen?“, fragt Agerian, während Omi schon die Kuchenkrümel von der Tischdecke sammelt.
Eine Wagentür wird wuchtig ins Schloss gedroschen. Ein Zittern durchfährt das Haus, die Gläser auf dem Tisch summen, und ich denke an diesen Dinosaurier-Film. Die drei Schläge der Türklingel wirken vergleichsweise leise dagegen.
„Wer ist das?“, fragt Elenor und schaut in die Runde. Der Knick zwischen ihren Augenbrauen ist tiefer denn je.
Anscheinend erwartet niemand mehr Besuch. Zumindest antwortet keiner. Das zweite Klingeln hört sich lauter an als das erste, was aber natürlich gar nicht sein kann. Omi ist noch immer dabei, die Krümel zusammenzufegen, also stehe ich auf und sage: „Ich gehe schon.“
Beim dritten Klingeln bin ich an der Haustür und drücke die Klinke hinunter.
Ich will „Was machen Sie denn hier?“ fragen, doch irgendwie gehen Anfang und Ende
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