Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
vergessen. Ihr müsst alles vergessen. Auch Lichtwiese.“
„Es tut mir leid“, sagte Tante Hablieblieb wieder. „Ich wünschte, ich wäre dir eine bessere Mutter gewesen.“
Ein Tropfen läuft über ihre Wange zum Kinn hinunter, und ich wundere mich, dass Statuen weinen können.
„Lichtwiese braucht dich. Deshalb musst du jetzt gehen.“
Kuckuck Rosenzopf tritt einen Schritt näher und sieht mich prüfend an. Plötzlich packt er mich am Kragen. „Stell dich nicht so an!“
Ich versuche, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er ist unglaublich stark für einen alten Mann.
„So schlimm war es nicht!“, blafft Kuckuck Rosenzopf und seine Stimme ist auf einmal viel dunkler und rauer. „Wach endlich auf!“ Er schüttelt mich und klatscht mir seine Hand ins Gesicht. „Du kannst doch sowieso nicht sterben!“
Und dann schlage ich meine Augen auf.
Ich liege auf dem Boden neben der Haustür. Schuhe drücken in meinen Rücken. Der Chef lässt mich los und steht auf.
„Kaum zu glauben, dass der Junge von mir ist.“ Er schüttelt den Kopf, Gelenke knacken. „Kommt ganz nach seiner Mutter.“
Hinter ihm an der Wand sitzt Agerian. Sein Gesicht ist irgendwie zerkratzt und der Kragen seines Bademantels ist zerrissen. Neben ihm lehnt Manfred am Treppengeländer und hält seine Hand aufs linke Auge. Trotzdem ist die dunkle Schwellung erkennbar. Anscheinend wollten sie mir zur Hilfe kommen.
„Na gut“, sagt der Chef. „Dann ist der Löffel halt weg. Dann müssen wir uns etwas anderes überlegen, wie ihr eure Schuld begleichen könnt.“
Elenor, Omi und Tante Hablieblieb stehen noch immer im Flur. Ich suche den Boden und die Möbel nach Strom-Tom und Strom-Klaus ab und bleibe bei dem Päckchen auf der Kommode hängen. Dem Päckchen, das Herr Langlöffler mir gegeben hat. Ich erstarre.
„Ihr habt meine unterirdische Festung zerstört“, sagt der Chef. „Ihr habt Dunkelstadt in Schutt und Asche gelegt. Und jetzt baut ihr das alles wieder auf. Und wenn ihr das alleine nicht schafft, dann müssen euch die anderen Menschen eben helfen. Ihr werdet für mich schuften! Von sechs Uhr bis fünf vor sechs! So lange, bis alles wieder so ist, wie es einmal war!“
Der Chef wird zum Ende hin ziemlich laut und sein Lachen ist sogar noch lauter. Die anderen sehen ziemlich erschrocken aus, doch ich kann nur das Päckchen anstarren, das zur Hälfte vom blutigen Knie des Chefs verdeckt wird. Ich starre darauf, als könne ich es kraft meiner Gedanken bewegen. Es gibt keinen anderen Weg heranzukommen. Der Chef würde es sofort bemerken und dann wäre alles verloren. Vielleicht sogar noch mehr, als ohnehin schon verloren ist. Doch auch Telekinese funktioniert nicht, deshalb schweift mein Blick Hilfe suchend durch den Raum und trifft auf Elenors. Sie schaut erst mich an, dann zum Päckchen hinüber, von dem sie höchstens eine Ecke sehen kann, weil die Wand im Weg ist, und dann tut sie etwas sehr Überraschendes: Die dreht sich um und läuft davon. Läuft davon, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her, während Omi und Tante Hablieblieb ihr verwundert nachschauen, und der Chef sich zwischen ihnen hindurchdrängelt und polternd die Verfolgung aufnimmt. Strom-Tom und Strom-Klaus schießen Elektro-Blitze, und der Chef schreit, jedoch nicht vor Schmerz, sondern: „Ich wusste es! Ihr habt den Löffel!“
Ich springe auf, zerreiße das Packpapier und öffne den Karton. Etwas rutscht heraus, an meinen Händen vorbei und klimpert auf die Fliesen.
„Der Löffel!“, erkennt Tante Hablieblieb und zieht eine Augenbraue hoch, was für ihre Verhältnisse ein äußert erstaunter Ausdruck ist.
Ich wische ihn nicht einmal ab, bevor ich ihn in den Mund stecke. Ich lecke eine Panade von Staub und Flusen vom Löffel – zu Omis Verteidigung muss daran erinnert werden, dass wir in den letzten Tagen wirklich andere Dinge zu tun hatten, als zu putzen – und denke an den ersten Wunsch, der mir in den Sinn kommt.
Nachtrag
Wir leben jetzt alle in Omis Haus. Nur Agerian hat es nicht lange ausgehalten. Er sei es einfach nicht gewohnt, mit so vielen Menschen auf engem Raum zusammenzuleben. Vor allem nicht in einem Haus. Aber wir telefonieren regelmäßig. Er wohnt jetzt in der Stadt und arbeitet als Touristik-Kaufmann.
Omi und Tante Hablieblieb verstehen sich wunderbar. Gerade erst gestern sagte Omi, Tante Hablieblieb wäre für sie die Tochter, die sie nie hatte. Im gewissen Sinne stimmt das sogar. Wir haben noch nicht darüber
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