Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
verloren, sodass nur ein gehauchtes „Sie?“ übrig bleibt.
Er sieht genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe. So breit, groß und schwer, dass er wahrscheinlich nicht in einem Stück durch die Tür passt. Gekleidet in ein schwarzes Westernhemd mit Perlmuttknöpfen, schwarze Jeans und braune Cowboystiefel. Nur den Hut hat er wohl irgendwo unterwegs verloren. Sein Pferd ist ein roter Chevrolet, dessen Motorhaube bis in unseren Vorgarten reicht und dessen Heck beinahe die gesamte Straße versperrt. Was mich hingegen etwas verwundert, ist, dass der Chef nach Schwefel riecht. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass sein kurzes, graues Haar an den Seiten versengt ist. Auch der Rest von ihm befindet sich in einem gewöhnungsbedürftigen Zustand: Blutige Striemen zieren sein Hemd, der rechte Ärmel ist zur Hälfte abgerissen und die Knie sind abgeschürft.
„Dodo …“, sagt der Chef, als er der Meinung ist, dass ich ihn lange genug mit halb offenem Mund angestarrt habe. „So sieht man sich wieder.“
„Wieder?“, frage ich, doch selbst das ist ziemlich unverständlich, weil sich mein Mund nicht mehr schließen lässt.
„Ich an deiner Stelle wäre auch überrascht.“ Der Chef grinst. Mindestens drei seiner Zähne fehlen, zwei weitere sind abgebrochen. „Willst du mich denn nicht hineinbitten?“ Ein Blutschwall schwappt über die zerschlagene Unterlippe und fließt Richtung Kinn. Der Chef lässt ihn gewähren. „Wo bleibt denn dein gutes Benehmen?“
Der Chef schiebt sich quer durch den Türrahmen, und ich trete beiseite, um nicht plattgetrampelt zu werden. Meine Beine fühlen sich an, als hätte sie ein unbeholfener Vierjähriger aus Knetmasse zusammengesetzt. Die anderen stehen dicht gedrängt im kurzen Flur wie eine Schafherde in einer Gewitternacht. Ich stünde gerne zwischen ihnen anstatt hier alleine, doch dafür müsste ich am Chef vorbei, der den schmalen Gang zwischen Tür und Treppe komplett ausfüllt.
Manfred ist der Erste, der etwas sagt: „Verdammte Axt!“
„Das kann nicht sein!“, stößt Elenor hervor. Ihre Stimme und ihr Gesicht wetteifern um das größte Ausmaß an Fassungslosigkeit.
„Aber es … es ist alles explodiert!“, sagt Agerian. Das Flanellhandtuch löst sich von seinem Kopf und rutscht zu Boden.
„Wie bist du dort rausgekommen?“, fragt Tante Hablieblieb – und noch mehr als die vertraute Anrede überrascht mich das Erschrecken in ihrem Gesicht.
Omi hingegen hat ganz andere Sorgen. „Sie tropfen ja den ganzen Teppich voll!“
Auf dem Läufer hat sich eine Blutlache gebildet, deren genauer Ursprung jedoch noch nicht ganz klar ist. Dafür hat der Chef einfach zu viele Wunden.
Stolz präsentiert er die Reste seines Gebisses. „Dachtet ihr wirklich, es würde so einfach werden? Habt ihr wirklich geglaubt, es wäre schon vorbei? Wie langweilig!“ Einige Blutspritzer fliegen bis zum Ende des Läufers. „Was sollen eure Fans denn von euch halten?“
Es entsteht eine Stille, die nur durch ein regelmäßiges Tropfen gestört wird.
„Was … was wollen Sie?“, frage ich.
Der Chef dreht sich zu mir um. „Das ist der erste vernünftige Satz, den ich heute zu hören bekomme.“ Er nickt anerkennend. „Ich möchte nicht viel. Ich bin ein bescheidener Mann. Ich will nur das zurückbekommen, was mir gehört.“
Die Stille kehrt zurück. Vielleicht ist es auch eine andere. Aber das Tropfgeräusch ist dasselbe.
„Und was genau ist das?“, frage ich.
Der Chef kommt einen Schritt auf mich zu. Ich stoße mit dem Rücken gegen die Garderobe. „Dass du mich hintergangen hast, kann ich dir vielleicht noch verzeihen. Aber wenn du dich jetzt auch noch dumm stellst …“ Er beugt sich vor. Schwefelgeruch brennt in meiner Nase. „Ich will meinen rot-gelb gestreiften Löffel!“
Ich wende mein Gesicht ab, doch der Chef ist überall. „Tut mir leid, ich … ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.“
„Du warst der Letzte, der ihn hatte! Du hattest ihn, als du dich in die Tiefe gestürzt hast!“
„Ich kann mich an nichts erinnern.“
„Was war das?“, fragt der Chef.
„Er weiß es wirklich nicht“, kommt Elenor mir zur Hilfe.
„Du kannst dich also an nichts erinnern?“
Ich nicke erst einige schnelle Male und schüttele dann den Kopf. „An gar nichts. Die letzte Woche ist komplett weg.“
„Bullshit!“ Die Stimme des Chefs dröhnt laut in dem kleinen Raum. Meine Stirn fühlt sich auf einmal feucht an, und ich möchte gar nicht darüber nachdenken,
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