Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
Fleck. Ich fühle mich leichter.
„Glaubst du … glaubst du, er ist tot?“, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf und kaut an ihrer Unterlippe. „Er ist auf der anderen Seite. Aber es ist sehr gefährlich, die Grenze so zu überqueren, weil du nie weißt, wo du landest.“
„Woher weißt du das?“, frage ich und wische mir übers Gesicht.
„Weiß ich einfach“, entgegnet Lilly.
Ich nicke. Damit ist irgendwie alles gesagt, also warten wir. Die Dämmerung kommt schnell, die Dunkelheit gleich hinterher, und mit ihr die Kälte. Im Haus wird ein Licht entzündet. Der Wald wird still, ganz still. Der Mond geht auf und taucht die Bäume in gespenstisches Licht. Ihre Stämme werfen harte Schatten, in denen kleine Tiere lautlos umherhuschen. Wir rücken näher zusammen, und irgendwann lege ich meinen Arm um Lilly, aber ein leichtes Zittern bleibt trotzdem.
„Es ist soweit“, sagt sie nach einer langen Weile und steht auf.
Die graue Säule über dem Dach ist verschwunden.
Geduckt laufen wir über den kahlen Streifen zwischen Waldrand und Haus. Bei der Tür angekommen, drückt Lilly ohne zu zögern die Klinke herunter und schlüpft ins Innere. Im Haus ist es stockdunkel. Nur wenige Spritzer Mondlicht haben ihren Weg durch die geschlossenen Fensterläden gefunden. Ich atme viel zu laut, und mein Herz schlägt viel zu stark, doch noch mehr beunruhigt mich, dass das alles ist, was ich höre. Ich halte die Luft an und lausche angestrengt in die Schwärze: kein Schnarchen, kein gleichmäßig ruhiger Atem eines Schlafenden. Direkt neben mir spüre ich eine Bewegung, und wären meine Lungen nicht völlig leer, würde ich laut aufschreien, doch so ist Lilly schnell genug und presst ihre Hand auf meinen Mund. Ihre Augen funkeln in der Dunkelheit, und sie sieht mich an, als hätte ich beim Windspringen beide Beine benutzt.
„Tschuldigung“, hauche ich und spüre, wie ich rot werde.
Lilly nimmt meine Hand und zieht mich einige Schritte hinter sich her. Dann ist ihr Mund auf einmal so dicht an meinem Ohr, dass ich ihren Atem spüre.
„Im Keller.“
Ich schaue vor uns auf den Boden und entdecke ein Rechteck, das noch schwärzer als der Rest ist. Eine offen stehende Luke.
Die Holztreppe knarrt bei jedem Schritt. Zum Glück endet sie bereits nach acht Stufen.
Hier unten ist es schwarz wie Tinte, und ich frage mich, wie wir so den Eingang finden sollen, da beginnen Lillys Hände plötzlich zu leuchten. Sie bewegt sie schnell auf und ab, als schüttele sie etwas, und das Glühen wird stärker. Mein Gesicht scheint Bände zu sprechen, denn Lilly lächelt und flüstert: „Glüh-Räupchen.“
Der Keller ist gerade groß genug, um Platz für die Treppe und eine große, schwere Metalltür zu bieten, auf der sich neben einem Griff drei Rädchen befinden.
„Das muss er sein“, flüstert Lilly aufgeregt, „der Eingang zum geheimen Tunnel.“
Ich ziehe an dem Griff, doch die Tür rührt sich nicht.
„Verschlossen“, raune ich, weil ich irgendwie das Gefühl habe, auch mal etwas beitragen zu müssen. „Wir müssen den Schlüssel finden.“
Lilly schüttelt den Kopf. „Das ist ein Kombinationsschloss.“
Erst jetzt entdecke ich die Zahlen und Buchstaben auf den Rädchen. „Okaykay … Glück gehabt. Dann müssen wir einfach nur alle Kombinationen durchprobieren, bis wir die richtige gefunden haben.“
Wieder schüttelt Lilly den Kopf. „So viel Zeit haben wir nicht.“
„Wie meinst du das?“
„Weißt du, wie viele Möglichkeiten es gibt?“
Ich schaue wieder auf die Rädchen. Auf jedem befinden sich vier Buchstaben und vier Zahlen. „Nein … Wie viele denn?“
Lilly starrt ebenfalls die Rädchen und ihre Beschriftungen an. „Viel zu viele“, verkündet sie schließlich, und das beeindruckt mich noch mehr als jede Zahl der Welt, weil Lilly die Beste im Rechnen ist. Zumindest von den Mädchen.
„Dann hat Kuckuck Rosenzopf die richtige Kombination bestimmt irgendwo aufgeschrieben“, flüstere ich.
Lilly sieht mich zweifelnd an. „Meinst du?“
„Er wohnt ganz alleine hier draußen. Ich meine, was ist denn, wenn er die Kombination mal vergisst? Dann kann er doch keinen fragen.“
„Das ist eine ungeheure Frechheit!“, krächzt plötzlich eine Stimme.
Wir wirbeln herum, und Lilly lässt vor Schreck die beiden Glüh-Räupchen fallen.
In der Ecke unter der Treppe steht, auf einen Stock gestützt, ein kleiner, alter Mann. „Ich vergesse nie etwas“, sagt er im scharfen Ton. „Nie!“
„Wer …
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