Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
warum. „Wie oft soll er denn noch sein Gedächtnis verlieren? Das kann man vielleicht ein- oder zweimal machen. Aber doch nicht wieder und wieder und wieder! So was nutzt sich doch ab! Wisst ihr denn gar nichts über Dramaturgie?“
Ich verstehe noch nicht mal ansatzweise, wovon er da schreit, weshalb ich ein „Ich weiß es wirklich nicht“ hervorzittere.
Zwei rußgeschwärzte Pranken schließen sich um meinen Hals und reißen mich in die Höhe. „Wo ist mein Löffel? Wo ist mein verdammter Löffel?“
Ich will noch einmal versichern, dass ich es nicht weiß, doch es kommt nur ein unverständliches Röcheln dabei raus.
„Er kriegt keine Luft mehr!“
Agerian stürmt herbei, doch der Chef wischt ihn einfach beiseite.
„Er kann nicht sterben“, sagt er und auf einmal befinde ich mich unter seiner Achsel im Schwitzkasten. „Ich weiß das. Ich habe oft genug versucht, ihn umzubringen.“ Die anderen sehen irgendwie überrascht aus, und der Chef lacht. „Was glaubt ihr, was das alles sollte? Der Einarmige Bandit, der Anschlag im Wüstenwurm? Das waren Tests! Ich habe Dodo getestet, bis ich schließlich die ganze Wahrheit herausgefunden habe.“ Er verstärkt den Druck. „Aber weh tut ihm das hier trotzdem.“
„Lassen Sie meinen Jungen los!“, ruft Omi.
„Sagt mir, wo mein Löffel ist!“, dröhnt der Chef zurück.
„Wir wissen es nicht! Niemand weiß es!“
Das ist Elenor. Ich spüre ihre Stimme mehr, als dass ich sie höre. Ich fühle mich plötzlich sehr leicht.
„Wo ist er?“, brüllt der Chef und springt auf und ab, was mein Genick zu einem rhythmischen Knacken veranlasst. „Wo, wo, wo?“
Mein Kopf ist ein großer roter Luftballon. Wenn der Chef mich jetzt loslässt, fliege ich davon.
„Wir haben ihn nicht!“, schreit jemand. „So glauben Sie uns doch, der Löffel ist weg! Er ist in der unterirdischen Festung verlorengegangen!“
„Dann haben wir jetzt ein Problem …“
Der Schwitzkasten öffnet sich. Zu meiner Überraschung hebe ich nicht etwa ab, sondern klatsche wie ein nasses Handtuch auf den Teppichläufer. Der Schirmständer fällt um. Jemand hechelt ziemlich laut. Und dann geht auch noch das Licht aus.
Nicht schon wieder, denke ich.
Kuckuck Rosenzopf
Ich brauche lange, um zu Lilly zurückzufinden. Die Bäume rücken immer dichter zusammen, als wäre der Wald ein einziges riesiges, rosafarbenes Lebewesen, das mich nicht aus seinem Inneren entkommen lassen will. Die ganze Zeit über sehe ich Samuel vor mir, wie er losläuft und zwischen den Stämmen verschwindet, und frage mich, wo er jetzt ist, und habe zugleich fürchterliche Angst vor der Antwort. Beinahe genauso häufig denke ich daran, was für einen Ärger ich bekommen werde, was für einen Riesenärger, weil ich Samuel habe vorlaufen lassen, den kleinen, etwas moppeligen Samuel, der nicht einmal richtig Windspringen kann, und ich schäme mich dafür, überhaupt einen Gedanken daran zu verschwenden.
„Was ist passiert?“, fragt Lilly, nachdem ich sie dann doch irgendwann gefunden und mich neben sie gesetzt habe.
„Was soll denn passiert sein?“, frage ich zurück, und meine Stimme klingt irgendwie seltsam, ganz anders als sonst, so als würde jemand durch mich hindurch sprechen. „Gar nichts ist passiert.“
„Wo ist Samuel?“
„Gegangen.“
„Gegangen?“
Ich nicke.
„Wohin denn?“, fragt Lilly etwas laut, und ich muss mich zurückhalten, um nicht einfach aufzustehen und wegzulaufen.
„Nach Hause“, sage ich und kralle meine Finger in den Waldboden. „Er hatte keine Lust mehr zu warten.“
„Zu Fuß braucht er mindestens drei Tage! Und er kennt den Weg doch gar nicht!“
Ich zucke mit den Schultern. „Du weißt ja, wie Samuel ist.“
Lilly streicht sich die Haare aus dem Gesicht, kämmt sie hinter ihre großen Ohren und sieht mich sehr eindringlich an. „Dodo, was ist passiert?“ In solchen Momenten kommt sie mir groß vor, viel größer als ich, schon richtig erwachsen. „Nun sag schon!“
Sie knufft mich gegen die Schulter, und ich denke, dass es kein anderes Mädchen gibt, dass so fest knuffen kann wie Lilly, und dann verschwimmt der Wald plötzlich und alles sprudelt aus mir heraus.
„Es war nicht deine Schuld“, sagt Lilly, als ich aufgehört habe zu schluchzen, und streicht mir über den Kopf. „Samuel wollte unbedingt nach dem Eingang suchen, nicht du.“
Als ich mich wieder aufsetze, hat ihre Bluse an der Schulter, dort, wo ich mein Gesicht vergraben habe, einen dunklen
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