Von meinem Blut - Coben, H: Von meinem Blut - Long Lost
dauernder Angst weiterzuleben.«
Dieser Grund leuchtete Win schon eher ein. » Du würdest lieber proaktiv vorgehen.«
» Ja, ich denke schon.«
Win nickte. » Was noch?«
Ich trank einen kräftigen Schluck. » Ich habe das blonde Mädchen gesehen. Ich habe ihren Gang gesehen. Und auch ihr Gesicht.«
» Ah«, sagte Win. » Und wie du schon erwähntest, sind dir Ähnlichkeiten zwischen ihr und der liebreizenden Ms. Collins aufgefallen, die womöglich genetischer Natur sind.«
Ich trank mein Yoo-hoo.
Win sagte: » Erinnerst du dich an diese optischen Täuschungen, die so beliebt waren, als wir klein waren? Wenn man sich so ein Bild anguckte, sah man darin entweder eine alte Hexe oder ein hübsches junges Mädchen? Es gab auch eins, das entweder ein Kaninchen oder eine Ente sein konnte.«
» So war das nicht.«
» Stell dir folgende Frage: Geh mal davon aus, Terese hätte dich nicht aus Paris angerufen. Nimm einfach mal an, auf dem Weg zum Büro wäre dir dieses blonde Mädchen entgegengekommen. Wärst du dann stehen geblieben und hättest gedacht: › O Gott, das muss Tereses Tochter sein.‹«
» Nein.«
» Also ist das Ganze situationsbedingt. Verstehst du?«
» Ja.«
Wir saßen noch eine Weile schweigend da.
» Natürlich«, sagte Win, » muss so etwas nicht unbedingt falsch sein, nur weil es situationsbedingt ist.«
» Das stimmt.«
» Außerdem könnte es Spaß machen, einen bedeutenden Terroristen zur Strecke zu bringen.«
» Wirst du mir helfen?«
» Noch nicht«, sagte er. » Aber wenn ich das Glas leer habe und ins Schlafzimmer gehe, dann werd ich Mia helfen.«
32
Die Gedanken nehmen oft ziemlich holperige und verschlungene Wege.
Logik geht nie den kürzesten Weg. Sie saust wild herum, prallt hier und da wieder ab, schlägt Haken und verrennt sich in Umleitungen. Fast alles kann als Katalysator wirken, oft tun es auch Dinge, die nichts mit der bevorstehenden Aufgabe zu tun haben, irgendetwas gibt einen Anstoß, worauf die Gedanken sich in eine überraschende Richtung bewegen– eine Richtung, die dann in einem ganz anderen Bereich zu einer Lösung führt, auf die man durch geradliniges Denken niemals gekommen wäre.
Das passierte mir gerade. Auf diese Weise habe ich angefangen, die Einzelteile zusammenzusetzen.
Terese war wach, als ich nach dem Wiedersehen mit Win ins Schlafzimmer zurückkam. Ich erzählte ihr nichts von meinen situationsbedingten oder sonstigen Überlegungen bezüglich des blonden Mädchens. Ich wollte ihr nichts vorenthalten, aber bisher gab es noch keinen Grund, sie damit womöglich zu verunsichern. Sie versuchte, die alten Wunden verheilen zu lassen. Warum sollte ich an den Nähten herumreißen, bevor ich wirklich etwas wusste?
Sie schlief wieder ein. Ich hielt sie weiter im Arm und schloss dann auch die Augen. Mir wurde klar, wie wenig ich geschlafen hatte, seit ich von meinem sechzehntägigen Blackout zurückgekehrt war. Ich glitt in meine Alptraumwelt, aus der ich gegen drei Uhr morgens jäh aufschreckte. Mein Herz trommelte. Ich hatte Tränen in den Augen. Ich erinnerte mich nur an ein Gefühl, dass ich unwiderstehlich heruntergedrückt und dann auf den Boden gepresst wurde, mit so großem Druck, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich stand auf. Terese schlief. Ich beugte mich zu ihr hinunter und gab ihr einen sanften Kuss.
Im Nebenzimmer stand ein Laptop. Ich loggte mich ins Internet ein und suchte nach › Save the Angels‹. Die Website erschien. Oben war ein Banner mit der Aufschrift Save the Angels und darunter stand etwas kleiner Christliche Lösungen . Im Text stand etwas von Leben, Liebe und Gott. Sie schlugen vor, den Begriff » Selbstbestimmung der Frau« durch das Wort » Lösung« zu ersetzen. Sie führten Referenzen von Frauen auf, die sich für eine » Adoption als Lösung« entschieden hatten, statt für den » Mord«. Sie sprachen mit Ehepaaren, die Fruchtbarkeitsprobleme hatten und im Folgenden erklärten, dass die Regierung » grausame Experimente« mit ihren » Ungeborenen« machen wollte, während › Save the Angels‹ helfen könnte, einen eingelagerten Embryo » seinem eigentlichen Ziel näherzubringen– zu leben«, indem man die christliche Lösung wählte und einem unfruchtbaren Ehepaar half.
Ich kannte diese Argumente und erinnerte mich daran, dass auch Mario Contuzzi kurz davon gesprochen hatte. Er hatte gesagt, die Gruppe wäre zwar recht konservativ, aber nicht extremistisch. Ich sah das ähnlich. Dann surfte ich weiter. Ich fand ein
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