Von meinem Blut - Coben, H: Von meinem Blut - Long Lost
missionarisches Leitwort, in dem davon die Rede war, dass man Gottes Liebe teilen und die » ungeborenen Kinder« retten müsste. Ich fand ein Glaubensbekenntnis, das mit dem Glauben an die Bibel anfing, die das » vollständige von Gott gegebene und fehlerlose Wort« sei, worauf es dann dazu überging, die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Lebens zu preisen. Man konnte Buttons anklicken und so mehr über Adoptionen, über die aktuelle Rechtslage, über geplante Veranstaltungen und Hilfsleistungen für leibliche Mütter erfahren.
Ich klickte auf den Button » Häufig gestellte Fragen«, weil ich wissen wollte, wie sie Fragen nach dem Was und Wie beantworteten, zum Beispiel wie sie unverheiratete Mütter unterstützten und unfruchtbare Ehepaare mit den eingelagerten Embryos zusammenbrachten, was für Formulare man ausfüllen musste, wie hoch die Kosten waren, wo man spenden konnte und welche Möglichkeiten es gab, sich dem Save-the-Angels-Team anzuschließen. Das Ganze war ziemlich beeindruckend. Dann folgte eine Bildergalerie. Ich klickte auf Seite eins. Da waren Fotos von zwei ziemlich prächtigen Anwesen, in denen die unverheirateten Mütter untergebracht wurden. Eins sah aus wie ein Herrenhaus auf einer Plantage in Georgia– ganz weiß, mit Marmorsäulen und von riesigen Trauerweiden umgeben. Das andere Gebäude wirkte wie die perfekte Bed-and-Breakfast-Pension– ein malerisches, fast schon übertrieben gestaltetes viktorianisches Haus mit Türmen und Türmchen, Buntglasfenstern, einer Veranda vor dem Haus und einem blaugrauen Mansardendach. Die Bildunterschriften wahrten Vertraulichkeit, sowohl in Bezug auf die Bewohner als auch auf die Häuser– es wurden weder Namen noch Adressen aufgeführt–, während die an Urlaubspostkarten erinnernden Fotos beim Betrachter schon fast die Hoffnung schürten, doch bald ungewollt schwanger zu werden.
Ich klickte auf die zweite Seite der Fotogalerie– und da bekam ich den Anstoß für einen dieser seltsamen, verschlungenen Gedankengänge.
Auf dieser zweiten Seite waren Babyfotos. Die Bilder waren schön, entzückend und herzerweichend, es waren Bilder, die jeden Menschen, der ein Herz hatte, mit ehrfürchtigem Staunen erfüllten.
Mein primitives Gehirn neigt dazu, Dinge zu vergleichen. Wenn ich einen sehr schlechten Stand-up-Comedian sehe, denke ich daran, wie toll Chris Rock doch ist. Wenn ich einen Film ansehe, der versucht, mir mit aufwendig hergestelltem Technicolor-Blut einen Schrecken einzujagen, denk ich daran, wie Hitchcock mich sogar in Schwarzweiß fesseln kann. Und jetzt, als ich die Fotos der » geretteten Engel« betrachtete, dachte ich daran, wie perfekt diese Bilder im Vergleich zu den gruseligen viktorianischen Fotos waren, die ich heute Mittag in diesem fürchterlich gestalteten Schaufenster gesehen hatte. Dann fiel mir ein, was ich da noch erfahren hatte, nämlich dass HHK womöglich Ho-Ho-Kus bedeutete, und wie Esperanza darauf gekommen war.
Wieder das menschliche Gehirn– Milliarden von Synapsen, die wahllos durcheinander sendeten, feuerten, querschossen und funkten. Vollkommen nachvollziehen kann ich es nicht, aber folgende Gedanken müssen sich da vermischt haben: offizielles Photostudio, HHK, Esperanza, wie ich sie kennengelernt hatte, ihre Zeiten als Catcherin, FLOW, das Akronym der Fabulous Ladies of Wrestling.
Und plötzlich passte alles wie von selbst perfekt zusammen. Na ja, alles vielleicht nicht. Aber vieles. Zumindest so viel, dass ich wusste, wo ich am nächsten Morgen hinfahren würde: zu diesem fürchterlichen Schaufenster in Ho-Ho-Kus. Zum › Offiziellen Photostudio von Albin Laramie‹ oder, wenn man als Kurzform nur das Akronym notierte, OPAL.
*
Der Mann hinter dem Tresen im Offiziellen Photostudio von Albin Laramie musste Albin selbst sein. Er trug einen Umhang. Einen glänzenden Umhang. Wie Batman oder Zorro. Sein Bart sah aus wie auf einer Etch-A-Scratch-Zaubertafel gemalt, seine Haare waren perfekt und aufwendig zerzaust, und seine ganze Persönlichkeit schrie förmlich, dass er nicht einfach nur ein Künstler war, sondern ein » Artiste!«. Als ich eintrat, telefonierte er gerade mit finsterer Miene.
Ich ging auf ihn zu. Er hob einen Zeigefinger und bat mich so, einen Moment zu warten. » Der versteht das nicht, Leopold. Was soll ich dazu sagen? Der Mann hat weder einen Blick für Perspektive noch für Textur oder Farbe. Er sieht das einfach nicht.«
Mit einem weiteren Heben des Fingers bedeutete er mir, dass ich
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