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Von Natur aus kreativ

Von Natur aus kreativ

Titel: Von Natur aus kreativ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Poeppel , Beatrice Wagner
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Facebook-Pinwand, Urlaubsfotos oder erzählte Anekdoten beweisen.
    Was aber sind die Grundvoraussetzungen der Wahrnehmung? Wie funktioniert sie? Die im westlichen Kontext übliche Vorstellung ist das Prinzip des Bottom-up. Angewandt auf das Sehen besagt es, dass wir Einzelheiten wahrnehmen, die wir dann zu einem Bild komponieren. Wie die einzelnen Elemente aus dem Sehraum herausgefiltert und dann zusammengesetzt werden, entdeckten David Hubel und Torsten Wiesel, wofür sie 1981 den Nobelpreis erhielten. Allerdings konnten bis heute weder Hubel und Wiesel noch andere Neurobiologen erklären, nach welchem Prinzip das „Binding“ – das Zusammensetzen der Einzelheiten zu einem Bild – funktioniert. Es fehlt im Modell ein Element, mit dem die Einzelheiten zu einer Gestalt verschmelzen.
    Fast zur gleichen Zeit, im Jahr 1982, wurde im asiatischen Raum ein zum Bottom-up-Prinzip konträres Wahrnehmungsmodell entwickelt, das auf den chinesischen Wissenschaftler Lin Chen zurückgeht. Nach ihm ist der erste Schritt einer Wahrnehmung nicht die lokale Analyse von Details, sondern das Herausfiltern von zunächst großräumigen Faktoren, wie Flächen, Kanten oder Löchern. Vor allem die gleichbleibenden, sich nicht ändernden Gestalten sprechen unser Sehen zuerst an – Lin Chen nennt sie „topologische Invarianten“. Sie bedingen eine Sehrichtung, die von der großen, überblickshaften Wahrnehmung hinab zur Wahrnehmung kleinerer Einzelheiten führt. Das wird auch als Top-down-Prinzip bezeichnet.
    Zwei gegensätzliche Prinzipien aus West und Ost, die beide durch viele Experimente belegt worden sind. Welches stimmt? Oder sind in uns Menschen beide wirksam, können wir sie zusammenfügen? Unter welchen Umständen ist es denkbar, dass beide Modelle richtig sind, obwohl sie sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen?
    Oft veranschaulicht unsere Alltagspraxis komplexe Zusammenhänge besser als abstrakte wissenschaftliche Modelle: „Wenn ich ein Layout oder eine Illustration begutachte, wähle ich beide Methoden“, erklärt die Münchner Grafikerin Katharina Schweissguth. Beim Designen am Computer schaut sie zunächst von Nahem auf den Monitor. „Doch immer wenn ein Gestaltungsschritt beendet ist, trete ich zurück und schaue mir mein Werk aus der Entfernung an. Dabei kneife ich die Augen zusammen, um nicht auf Details zu achten, sondern einen Gesamteindruck zu bekommen“, so die Grafikerin. Stört sie etwas am Ganzen, arbeitet sie sich wieder in die Details hinein.
    Eine solche Komplementarität von Bottom-up und Top-down ist der „two-streams hypothesis“ zufolge auch bei der Gesichtswahrnehmung zu beobachten. Die über die Augen aufgenommenen visuellen Informationen werden im Hinterhauptlappen (occipitaler Cortex) verarbeitet. Hierhin gelangen die Informationen auf zwei verschiedenen Kanälen („streams“ ist die neurobiologische Bezeichnung dafür). Diese Kanäle scheiden sich an der Augenlinie: Was unterhalb der Augenlinie wahrgenommen wird, gelangt über den sogenannten dorsalen Stream in den Scheitellappen (Parietallappen); was oberhalb der Augenlinie wahrgenommen wird, wird über den ventralen Stream in den Schläfenlappen (Temporallappen) geleitet. Das Besondere: Die über den ventralen Stream eingehenden Informationen werden detailreich, die über den dorsalen Stream eingehenden Informationen hingegen „als Ganzes“ wahrgenommen. Die Schminktechnik von Frauen ist eine möglicherweise unbewusste Replik auf diese neurobiologischen Mechanismen: Vielleicht werden Augen deshalb detailreich geschminkt und Lippen plakativ?
    Beim Wahrnehmen ist es auch entscheidend, was wir anschauen. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Art + Science“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München fragten Sarita Silveira und Evgeny Gutyrchik, ob naturalistische und surrealistische Bilder in unterschiedlicher Weise im menschlichen Gehirn verarbeitet werden. Den Probanden wurden dazu einmal naturalistische Bilder gezeigt, also Ölbilder, welche die Natur ähnlich abbilden, wie sie in der Realität zu sehen ist. Dann bekamen sie surrealistische Malerei zu sehen wie zum Beispiel das berühmte Bild „Die Beständigkeit der Erinnerung“ von Salvador Dalí mit den zerfließenden Uhren. Bei der Auswahl der Bilder war es wichtig, dass sie sich in ihrer Maltechnik nicht wesentlich unterscheiden, weswegen kein naturalistisches Bild mit dem eines Impressionisten verglichen wurde. Deshalb hatte zuvor eine Arbeitsgruppe an der Peking

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