von Schirach, Ferdinand
verlassen würden. »Bad
Homburg verlassen« klinge besser, als es direkt zu sagen, fanden sie. Theresa
sagte, sie würde Leonhard mitnehmen, sie kämen schon irgendwie durch.
Tackler verstand sie nicht, er aß
einfach weiter. Als er Theresa bat, ihm das Brot zu geben, schrie Leonhard ihn
an: »Du hast uns lange genug gequält«, und Theresa sagte etwas leiser: »Wir
wollen nie so werden wie du.« Tackler ließ das Messer auf den
Teller fallen. Es klirrte. Dann stand er wortlos auf, ging zum Wagen und fuhr
zu seiner Freundin. Erst gegen drei Uhr nachts kehrte er zurück.
Später in dieser Nacht saß Tackler allein in der Bibliothek. Auf
dem Bildschirm, der in die Bücherwand eingebaut war, lief ein selbst gedrehter
Film ohne Ton. Er war von einer Su per-8-Kamera auf Video überspielt worden.
Die Bilder waren überbelichtet:
Seine erste Frau hält die
beiden Kinder an den Händen, Theresa mag drei und Leonhard zwei Jahre alt sein.
Seine Frau sagt etwas, ihr Mund bewegt sich lautlos, sie gibt Theresa frei,
zeigt in die Ferne. Die Kamera folgt ihrem Arm, im unscharfen Hintergrund eine
Burgruine. Schwenk zurück auf Leonhard, er versteckt sich hinter dem Bein
seiner Mutter und weint. Steine und Rasen verwackelt in Nahaufnahme, die
Kamera wird übergeben, während sie weiterläuft. Sie fährt wieder nach oben, Tackler in Jeans und offenem Hemd,
Haare auf der Brust, er lacht breit und ohne Ton, er hält Theresa gegen die
Sonne, er küsst sie, er winkt in die Kamera. Das Bild wird heller, der Film
reißt ab.
In dieser Nacht beschloss Tackler, für Theresa ein Abschiedskonzert
auszurichten, seine Beziehungen sollten ausreichen, er würde sie »ganz nach
oben« bringen. Tackler wollte kein schlechter Mensch sein. Er schrieb jedem
seiner Kinder einen Scheck über 250.000 Euro aus und legte sie auf den Frühstückstisch. Er
fand, das wäre genug.
Am Tag nach dem Konzert gab es
in einer überregionalen Zeitung einen fast euphorischen Artikel. Der große
Musikkritiker bescheinigte Theresa eine »strahlende Zukunft« als Cellistin.
Sie meldete sich nicht am
Konservatorium an. Theresa glaubte, ihre Begabung sei so groß, dass sie noch
warten könne. Jetzt ging es um etwas anderes. Die Geschwister fuhren fast drei
Jahre lang durch Europa und die USA. Sie spielte auf ein paar privaten
Konzerten und ansonsten nur für ihren Bruder. Das Geld Tacklers machte die
Geschwister zumindest für einige Zeit unabhängig. Sie blieben unzertrennlich.
Ihre Affären nahmen sie nicht ernst, und es gab in diesen Jahren kaum einen
Tag, den sie ohne den anderen verbrachten. Sie schienen frei zu sein.
Fast auf den Tag genau zwei
Jahre nach ihrem Konzert in Bad Homburg traf ich die beiden auf einem Fest in
der Nähe von Florenz wieder. Man feierte im Castello di Tornano, einer
Burgruine aus dem 11. Jahrhundert, umgeben von Olivenbäumen und Zypressen
inmitten von Weinbergen. »Jeunesse doree« nannte der Gastgeber die
Geschwister, die in einem Cabriolet aus den Sechzigerjahren ankamen. Theresa
küsste ihn, und Leon zog übertrieben elegant seinen albernen Borsalino-Strohhut.
Als ich später am Abend zu
Theresa sagte, ich hätte nie wieder so intensiv wie im Hause ihres Vaters die
Cellosonaten gehört, antwortete sie: »Es ist das Prelude der ersten Sonate. Nicht die
sechste Sonate, die jeder für die bedeutendste hält und die die schwierigste
ist. Nein, es ist die Erste.« Sie trank einen Schluck, beugte sich vor und
flüsterte mir ins Ohr: »Verstehst du, das Prelude der Ersten. Sie ist das ganze
Leben in drei Minuten.« Dann lachte sie.
Am Ende des darauffolgenden
Sommers waren die Geschwister in Sizilien. Sie wohnten für ein paar Tage bei
einem Rohstoffhändler, der dort ein Haus für den Sommer gemietet hatte. Er
hatte sich etwas in Theresa verliebt.
Leonhard erwachte mit leichtem
Fieber. Er dachte, es läge an dem Alkohol der letzten Nacht. Er wollte nicht
krank sein, nicht an diesem strahlenden Tag, nicht in dieser glücklichen Zeit.
Die Coli-Bakterien breiteten sich schnell in seinem Körper aus. Sie waren im
Wasser gewesen, das er vor zwei Tagen an einer Tankstelle getrunken hatte.
In der Garage fanden sie eine
alte Vespa und fuhren in Richtung Meer. Der Apfel lag mitten auf dem Asphalt,
ein Erntewagen hatte ihn verloren. Er war fast rund und glänzte in der
Mittagssonne. Als Theresa etwas sagte, drehte Leonhard den Kopf, um sie zu
verstehen. Das Vorderrad glitt über den Apfel und stellte sich quer.
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