von Schirach, Ferdinand
langsam, nur Stück für Stück,
versuchte er seine Geschichte wiederzugeben. Es gelang kaum, ihm fehlten die
Worte. Wie viele Menschen hatte er Schwierigkeiten, seine Gefühle auszudrücken.
Es erschien einfacher, den psychiatrischen Sachverständigen den Lebenslauf des
Angeklagten vortragen zu lassen.
Der Psychiater war gut
vorbereitet, er schilderte Michalkas Leben in allen Einzelheiten. Das Gericht
kannte das bereits aus dem schriftlichen Gutachten, aber für die Schöffen war
alles neu. Sie waren aufmerksam. Der Psychiater hatte Michalka in ungewöhnlich
vielen Sitzungen befragt. Als er endete, wandte sich die Vorsitzende an Michalka,
ob der Sachverständige alles richtig wiedergegeben habe. Michalka nickte: »Ja,
hat er.«
Dann wurde der Sachverständige
nach seiner wissenschaftlichen Einschätzung der psychischen Situation bei dem Überfall
auf die Bank befragt. Der Psychiater erklärte, dass das dreitägige Umherirren
in der Stadt, ohne dass Michalka dabei etwas gegessen oder getrunken habe,
seine Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt habe. Michalka habe kaum
mehr gewusst, was er tat, und er habe seine Handlungen fast nicht mehr selbst
bestimmen können. Die Beweisaufnahme wurde geschlossen.
In einer Verhandlungspause
sagte Michalka, dass das doch alles keinen Sinn habe, wieso man sich so viel
Mühe mit ihm mache, er würde sowieso verurteilt.
In einem Strafprozess plädiert
zuerst die Staatsanwaltschaft. Anders als in Amerika oder England ist sie in
Deutschland keine Partei, sondern verhält sich neutral. Sie ist objektiv, sie
ermittelt auch entlastende Umstände, und deshalb gewinnt sie nicht, und sie
verliert nicht - die Staatsanwaltschaft hat keine Leidenschaft außer dem
Gesetz. Sie dient nur dem Recht und der Gerechtigkeit. So ist es zumindest in
der Theorie. Und während eines Ermittlungsverfahrens stimmt das auch in aller
Regel. Aber in der Hitze eines Prozesses verändern sich die Verhältnisse oft,
und die Objektivität beginnt zu leiden. Das ist menschlich, denn ein guter
Ankläger bleibt eben immer ein Ankläger, und es ist mehr als schwierig, anzuklagen
und gleichzeitig neutral zu bleiben. Vielleicht ist das ein Webfehler in
unserer Strafprozessordnung, vielleicht verlangt das Gesetz einfach zu viel.
Für Michalka beantragte der
Staatsanwalt neun Jahre. Er sagte, dass er nicht glaube, dass die Geschichte,
die Michalka erzählt habe, stimme. Sie sei »zu phantastisch und vermutlich
frei erfunden«. Auch eine verminderte Schuldfähigkeit wolle er nicht annehmen,
denn die Ausführungen des Psychiaters würden nur auf den Angaben des
Angeklagten beruhen und seien durch nichts belegt. Fakt sei nur, dass Michalka
einen Banküberfall begangen habe. »Die gesetzliche Mindeststrafe für einen
Bankraub ist fünf Jahre«, sagte er. »Es ist bereits das zweite Mal, dass der
Angeklagte dieses Delikt verübt hat. Als einzige Milderungsgründe kann man
anerkennen, dass die Beute sichergestellt wurde und dass er ein Geständnis
abgelegt hat. Neun Jahre sind daher der Tat und der Schuld des Angeklagten
angemessen.«
Natürlich kann es nicht darum
gehen, ob man die Angaben eines Angeklagten glaubt. Vor Gericht geht es um
Beweise. Der Angeklagte ist dabei im Vorteil: Er muss nichts beweisen. Weder
seine Unschuld noch die Richtigkeit seiner Aussage. Aber für
Staatsanwaltschaft und Gericht gelten andere Regeln: Sie dürfen nichts
behaupten, was sie nicht auch belegen können. Das klingt viel einfacher, als
es ist. Niemand ist so objektiv, dass er Vermutung und Nachweis immer auseinanderhalten
kann. Wir glauben etwas sicher zu wissen, wir verrennen uns, und oft ist es
alles andere als einfach, wieder zurückzufinden.
Plädoyers sind in unserer Zeit
für einen Prozess nicht mehr entscheidend. Staatsanwaltschaft und Verteidigung
sprechen nicht zu Geschworenen, sondern zu Richtern und Schöffen. Jeder falsche
Ton, jedes Brustaufreißen und jede geschraubte Formulierung sind unerträglich.
Die großen Schlussvorträge passen in frühere Jahrhunderte. Die Deutschen mögen
kein Pathos mehr, es hatte einfach zu viel davon gegeben.
Aber manchmal kann man sich
eine kleine Inszenierung erlauben, einen unerwarteten letzten Antrag. Michalka
selbst hatte davon nichts geahnt.
Eine Bekannte arbeitete im
diplomatischen Dienst, sie war in Kenia stationiert und half mir. Über viele
Umwege hatte sie Michalkas Freund, den Arzt aus der Provinzhauptstadt,
gefunden. Der Arzt sprach perfekt
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